Gutenachtgeschichten zwischen Bergen und Meer, Dachsen und Wildschweinen, Siebenschläfern und Waldkäuzen / IIa

14.2.2017 silliguri LITERATUR-Tips aus der Natur

VON GYMNASIASTEN, DIE AUSZOGEN, IN SELBSTGEBASTELTEN KRIEGEN HELDEN ZU SPIELEN UND ANDEREN…
„Eine schlechte Geschichte ist lang, auch wenn sie in einem Augenblicke erzählt ist“, sagt der alte Trapper in John Barths ‚Tabakhändler‘, „und eine gute Geschichte ist kurz, auch wenn sie von Siebenschläfer bis Michaeli dauert“. Die von M.ÉNARD in ‚Zone‘ ausgeschüttete Geschichte ist in den wenigen Stunden erzählt, die die Zugfahrt mit dem Pendolino von Mailand nach Rom dauert. Drive gewinnt sie v.a. durch den Dreh, 600 Seiten ohne Punkt und Absatz in 24 Kapiteln durchzuhecheln, was bei Vielen den irrigen Eindruck eines furiosen Parforce-Ritts mit verstörendem Tiefgang hinterlassen hat – wo es eigentlich bloß um eine atemraubende Überrumplung mit 2 Tricks und 3 Fragezeichen geht. Der zum Roman, sogar zum „großen europäischen Roman der Gegenwart“(SZ) aufgeblasene innere Monolog stammt von einem abgehalfterten Geheimdienstler und Kroatiensöldner, Folterer und Vergewaltiger, Mörder und Neofaschisten, der am Ende seines Lateins Erlösung, Verständnis, Vergebung gar und den Ritterschlag herbeisabbern will. Man kennt solche Typen („man“ hier als Abk. für „manch eine/r, darunter der Rezensent“) und ihre großspurigen Rechtfertigungslitaneien, selbst wenn sie ihr verkorkstes Heldentum in selbstmitleidige Arme-Sünder-Gewänder hüllen: Wer so einem Fremdenlegionär angeschickert am Kneipentisch gegenübersitzt, hat besser einen guten Freund dabei, wenn er zu neurechtem Kriegsgeheul nicht schweigen kann.
Im Pendolino von Mailand nach Rom
Francis Servain Mirkovic also, behüteter Sohn eines französischen Ingenieurs und einer kroatischen Klavierlehrerin, hat lustlos Politologie studiert (das sind sowieso die hohlsten Sprüchbeutel, BWLer der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften), 2 Jahre „Langzeit-Auslandspraktikum“ im Balkankrieg absolviert, danach wieder für den Hochschulabschluss gebüffelt und erwartungslos Bewerbungen für diverse Staatsdienste eingereicht, deren eine vom Geheimdienst des Verteidigungsministeriums überraschend angenommen wurde (dass die „so Einen wie mich“ -Sympathie mit Faschisten, lückenhafter Lebenslauf- überhaupt genommen haben). Er bleibt zwar niederrangiger Spion, aber dafür kommt er rum von Algerien bis Syrien nach Troja und zurück nach Paris und nochmals rund und quer ums Mittelmeer. Zum Schluss will er aussteigen und hat dazu einen ganzen Koffer voll brisanten Belastungsmaterials über diverse abgetauchte Schlächter der Zeitgeschichte zusammengetragen, den er für 300000 Silberlinge an den Vatikan zu verkaufen im Begriff ist, um danach ein neues Leben mit einer früheren Liebschaft, einer römischen Russin namens Saschka zu beginnen. In den letzten Stunden vor der Übergabe plagen ihn die Geister seiner jüngsten Vergangenheit aufs Gegenwärtigste, zu Rechtfertigungen und Prahlerei kommen Gewissensbisse v.a. wegen Feigheits- und Verratsselbstvorwürfen, aber auch wegen der verpassten Erlösungschancen durch erst Marianne, dann Stéphanie. Mit seinem „SCHICKSAL“ als alkohol- und amphetamingedopter Achill allerdings ist der irre Yvan Deroy (unter dessen geklauter Identität Mirkovic nach Rom reist) an sich durchaus im Reinen und darin besteht der eine Trick der Erzählung: Die ständig wiederholten Rekurse auf die homerische Heldentümelei der ‚Ilias‘ sollen eine Menschenwelt des ewigen Hassens, Rächens und Kriegerns als uralte Unausweichlichkeit zum Universalprinzip erheben, dem alle sowieso folgen müssen. Fragen nach Schuld und Verantwortung, gut oder schlecht, linksrechtsobenunten reduzieren sich auf das Recht des momentanen Siegers – und dessen Sportsglück mag ihn morgen vielleicht schon verlassen und vom Täter zum Opfer nivellieren.
Der andere Trick in diesem mit Troja auch als ewigem Ost-West-Clash gedachten Konstrukt ist dessen spielerische Darreichungsform: Ungezwungen daherpalavernd hopst Mirkovic von Anekdote zu Assoziation, vom Hölzchen zum Stöckchen aus seiner crazy world of terror und findet noch zum entlegensten Apropos ein Karteikärtchen aus seiner erschlagenden Enzyklopädie des Grauens, z.B. wenn er über das Etikett seines Biers sinniert, das in Udine gebraut wird, wo der Nazi Stangl einst hauste, der ihn wiederum in diverse Vernichtungslager weiterleitet bis hin zu deren Obertechniker Globocnik und von dort zu dessen Geburtsort Triest, in die er einen Party-Gag vom launigen Erschießen widerständischer Gefangener durch die beschwipste Nazi-Entourage verlegt. Manche Schilderungen haben Witz oder treffen freihändig in Schwarzes, manche bringen merkenswerte Informationen oder Ansätze davon. Zumeist mäandert Mirkovic allerdings in den erwartbaren Grenzen aufgeblasener Aufschneiderei und wehleidiger Geschwätzigkeit entlang, nervig repetetiv, gelegentlich auch allzu weit hergeholt und krampfhaft, z.B. im holprigen Anfang der Zugfahrt, wo er so oft Milano mit „Millan“ verknüpft, dass es schon weh tut, nur damit er seinen Sermon mit dem angebeteten Millan Astray (der Franco-General mit dem Markenzeichen, Berber enthaupten zu lassen, von Mirkovic als „lässliche Sünde“ eingeordnet) beginnen kann. Sowas hat Nietzsche besser hingekriegt als dieser ausgelaufene Stahlgewitterjünger. Den Clacqueren kriegerischen Heldentums jedoch ist der Francis so recht wie der Friedrich.
Das Buch wirft Fragen auf über jene hinaus, was uns der Autor wohl hat sagen wollen. Seinen Helden betreffend, Folterer, Vergewaltiger, „alkoholkranker Killer“ und „Lieblingsfaschist“ Stéphanies, der für nichts als die eigene Heldenverehrung und den Spaß dabei seine dreckigen Kriege führte, sagt’s Abu Nasser: „Werft das Arschloch in den nächstbesten Graben“. Sein Autor jedoch, ohnehin bereits maximal dicht an seiner traurigen Gestalt dran, rahmt dessen Erzählung auch noch mit Versen des Faschistendichters Pound ein und widmet das Buch der Welt der „A“s, so dass er sich fragen lassen muss, wie angetan er selbst von alkohol- und amphetamingedopten Achills, Adölfen und all den anderen armierten Arschtörtchen und ihren aufgetakelten Mein-Kampf-Geschichten ist. Wie passt zu dieser Welt der Schlächter und Schlechten die Nettigkeit, dass ausgerechnet der katholisch-klerikalfaschistisch ausgeflaggte Killer, der von Schwarzen natürlich als „Neger“ spricht, die von ihm vergewaltigten islamischen Frauen im Einzelnen korrekt „Muslima“ nennt? Énard leistet sich einige solche Pro-Muslimismen, z.B. wenn er Mirkovic die Ausschreitungen der „Kolonialtruppen“ gegen die italienische Bevölkerung relativieren[1], diesen anhand einer Reiselektüre den palästinensischen Befreiungskampf für sich vereinnahmen oder überwiegend christliche Enthauptungsorgien (inclusive der Heldentat seines Helden gegenüber einem muslimischen „Dorfdeppen“) berichten lässt – und damit dem gängigen Narrativ abendländischer Kriegstreiber/innen gegensteuert. Clever, löblich und, falls Absicht, doch wohl eher nebenbei.
Die dickste Intentionsspur, Brotkrumen so groß wie Käselaibe, legt Énard nämlich mit Saschka, der entrückten Ikonenmalerin in Rom, auf die sich Mirkovic als letzten Rettungsengel so versteift: Erlösung kann dem Blutsäufer halt nur ein unbedingt liebendes Weib schenken. Die Heilige ist Russin, gebürtig aus St.Petersburg („Nein, ich komme aus Leningrad“) – hat diesen Zaunpfahl noch keine/r der Rezensierenden bemerkt? Énard scheint Dostojewskis ‚Schuld und Sühne‘ als Matrix für den Leidens- und Erlösungsweg seines bösen Helden unterzulegen, doch ist jener kein Raskolnikow und seine Saschka keine Sofia, die den zurechtgewiesenen Übertreter durch die Heilkraft ihrer gottgefälligen Liebe mit sich auszusöhnen vermöchte. Tatsächlich spricht von solcher Liebe in Ènards ‚Zone‘ allein Mirkovics Chef Lébihan („die Liebe ist eine der Konstanten der Weltliteratur, Francis“), der im blutigen Chaos der ewigen Verstrickungen selbst den Faden und die Lust verloren hat und nur noch seinen Ruhestand haben will. Das könnte glatt ein Cameo-Auftritt des Autors selbst sein, der allerdings seinen müden Krieger nunmal bis zum unrühmlichen Abgang in Ungarettis faschistisch verhangenem Tiber noch begleiten muss.
Wer zur Hölle aber mag sowas lesend goutieren? Jedenfalls Gymnasiasten, denen Bildungsprivilegien und Leibesübungen im Zivilgehege nicht ausreichen, die hinaus sich sehnen aufs freie Feld der Ehre – auch jene, die aus Altersgründen leider nicht mehr eigenhändig in den ersten Schlachtreihen mittun können. Wie vor 100 Jahren, als sie mit Hurra und Übermensch und Deutschem Wesen in einen Weltkrieg zogen, mit Kultur und Kunst und einem Marsch von Mailand auf Rom ihre ‚Ästhetik kriegerischen Wahnsinns'[2] weitertrieben ins nächste schicksalsgroße Vernichtungswerk; aus diesem Abgrund zieht wohl auch der sog. unwiderstehliche Sog des Mirkovic-Monologs, den mindestens die deutsche Rezeption großteils empfunden hat – ein schiefgewickelter Abklatsch bloß der genialen Aufzeichnungen Dostojewskis aus dem Kellerloch. Verkniffene Drehorgelstiftchen, die heimlich oder offen von ihrer Heldenwerdung träumen und mit der Ästhetisierung nackter Gewalt als mythische Pforte zu etwas Größerem „fasziniert“ heißlaufen. Die fortgeschrittene Militarisierung öffentlichen Meinens endlich auf den Hund gekommen, des hochgerüsteten Hooligans. Schlechte Geschichten vom Krieg und mit schlechten Helden: Das verhüllt auch keine schnell noch aufgesetzte ästhetizistische Tarnkappe aus oberflächlichen Symbolen von Kirche, Gott, Nation und Mutterland, von Männerfreundschaft, Rache, Hass, von Grundzerrissenheit, Hochkultur und Kunstbeflissenheit. Gymnasiastinnen wie Stéphanie womöglich, die sich für all diese Astray, Luburic, Rosza erwärmen, für Burroughs und Lowry, für Pound, Céline, Basillerach, Bardèche und Mirkovic, wenn die nur genug Achill ausstrahlen.
Und alle singen: „Anders und Beate, Curzio Malaparte…“ – Thersites, hilf! Oh „Thersites, Schmäher aller Kriege, ihrer Feldherren, ihrer Propagandisten und ihrer Professoren“[3], mobilisier‘ die Marianne, den beherzten Eiertritt, mit dem sie ihren geliebten Schinder Francis zum Teufel jagte, gegen dessen Autor und diese ganze heldentümelnde Ares-Bagage wuchtig zu wiederholen. Bevor die militaristisch aufgeschwollenen Boxgesänge und deren belobigende Preisungen über die gymnasialen Schichten hinaus das ganze Abendland generalmobilgemacht haben. Wer indessen echte Geschichten vom Krieg und echten Helden lesen will, von denen es gar nicht so wenige gibt, halte sich grade mal aus der Hüfte z.B. an ‚Der Befreiungskampf im westlichen Ligurien 1943-1945‘ von Osvaldo Contestabile, ‚Last Standing Woman‘ von Winona Laduke, ‚Bury My Heart at Wounded Knee‘ von Dee Brown, ‚The Monkey Wrench Gang‘ von Edward Abbey oder ‚Sag‘ nie, Du gehst den letzten Weg‘ von Ingrid Strobl.

[1] Es gab zum Ende des 2.WK tatsächlich nur knapp 100 übrigens standrechtlich geahndete Übergriffe der im Text „Marocchinos“ genannten Kontingente der Alliierten – in 10 Jahren Italien habe ich „Marocchini“ oft, diesen Hispanismus allerdings nie gehört.
[2] So rezensiert Beat Mazenauer das Werk, um es anreißerisch mit Weiss‘ ‚Ästhetik des Widerstands‘ vergleichen zu können wie Äpfel mit Birnen oder Perlen mit Säuen. Ansonsten weist das Bonmot in keine schlechte Anfangsrichtung, wenn wir „Ästhetisierung“ statt „Ästhetik“ lesen. Als Ästhetik würde Énards ‚Zone‘ eine faschistische.
[3] https://www.jungewelt.de/beilage/art/265772?sstr=K%C3%B6hler|Thersites

Eine Antwort zu “Gutenachtgeschichten zwischen Bergen und Meer, Dachsen und Wildschweinen, Siebenschläfern und Waldkäuzen / IIa”


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