Gutenachtgeschichten zwischen Bergen und Meer, Dachsen und Wildschweinen, Siebenschläfern und Waldkäuzen / IIb

13.12.2017 silliguri LITERATUR-Tips aus der Natur

VON GYMNASIASTEN, DIE AUSZOGEN, IN SELBSTGEBASTELTEN KRIEGEN HELDEN ZU SPIELEN UND ANDEREN…
Balilla Böhmermann zieht in den Türkenkrieg
Im gleichen Verhältnis wie Francis zu Yvan steht der nächste Gymnasiast zum Erstgenannten. Der echte rechte knallharte Neofaschist sei sein Freund Yvan gewesen, er hingegen hätte eigentlich nur hier und da sympathisiert – aber v.a. aktiv Spaß und Sinn aus dem sowieso ewigen Kriegsspiel ziehen wollen, so klang das bei Francis. Bei Balilla Böh geht das Lied folgendermaßen: „Ich bin dioch nicht auf Augenhöhe mit der mächtigsten Frau Europas oder Welt und auch nicht mit einem Staatspräsidenten“, lamentiert er zur Kritik, wohl austeilen, nicht aber einstecken zu können, sondern lediglich „der kleine Junge auf der Straße, der oben die Leute mit Steinen beschmeißt.“ Es geht, wir ahnen es, um die Folgen seines „Schmähgedicht“ genannten rassistischen Auswurfs gegen die Türken im Allgemeinen und R.T.Erdogan im Besonderen, den J.BÖHMERMANN im Fernsehformat aus der selbstsicheren Deckung seiner gymnasialen Medienblase im Arsch der politischen Publicity ausgespuckt hat. Nicht viele haben jemals gewusst, wie dieses Gedicht im Ganzen lautet, nichtmal alle Bundestagsabgeordneten, die über abzuschaffende Staatschefsbeleidigungsparagraphen zu debattieren und abzustimmen hatten – bis der Abgeordnete Seif zum hysterischen Entsetzen gerade der bündnisgrünen Meistgeiferer selbiges im Plenum ungekürzt zum Vortrag gab. Auf solche Weise wird jedem noch mitdenkenden Menschen unabweislich klar, dass Böhmermanns Werk nichts als ein gereimter Schwall Fäkalien ist, das zu keiner Zeile über den beleidigend ressentimentgeladenen Horizont des großschnäuzigen Neospießers hinauskommt, so voll steckt es nicht nur mit Rassismen (von denen sich der „Ziegenficker“ bis heute im Salon gehalten hat, mittlerweile kam auch wieder der ‚Neger‘ dazu und die AfD in den Reichstag), sondern auch Sexismen und Homophobien („dieser Mann ist schwul, pervers, verlaust und zoophil“) – bis heute nachzulesen in den Bundestagsprotokollen zur Sitzung vom 12.5.2016.
Da stehen dann auch die affigen Einwürfe gegen Seifs Vorlesung für alle Zeiten niedergeschrieben: „Aus dem Kontext gerissen!“ etwa, sowas kann bei einer ungekürzten Lesung auch nur noch einem von der SPD einfallen. Eine führende Grüne versucht es mit „Gesamtkonstruktion Satire“ und wettert: „Wir dürfen uns von einem Ausländer nicht vorschreiben lassen, was bei uns im Land Satire ist.“ Genau, und wenn die Künast dafür von jemandem ‚Faschofotze‘ genannt würde, wäre das keine strafwürdige Beleidigung, sondern irgendwie politisch-satirisch und daher okay (falls es von einem Inländer gesagt wurde). „Kinderpornoguckerin“ geht aber erst ab Staatsoberhauptebene, vor der eigenen Tür ganz leicht -für allerdings Heldenmütige- zu verifizieren, damit wir uns da bloß nicht richtig verstehen. Es gab sogar Tiefflieger im Land der Dichter und Denker, die sich nicht entblödeten, so eine mistschmeißende Schrumpelklöte mit Tucholsky-Zitaten in Schutz zu nehmen, von wegen was die Satire dürfe („alles“) oder „küsst die Faschisten, wo ihr sie trefft“. Keine Ahnung von Satire zwar, von Tucholsky nicht und von Kontext ebensowenig. Aber Meinung, und die kolossal! Dabei hatte der Meister zu solchen oberkellnernden Medienwellenreitern ganz was anderes zu sagen und dies am Beispiel des Dichterkollegen Bronnen auch längst getan – dazu müssten die Plappermäulchen aber Tucholskys Werke kennen oder wenigstens im Register nachschlagen können.
EINEN guten Moment hatte der Böhmermann mal, das war der Coup, als er im Netz andeutete, „seine Leute“ könnten das Skandalvideo mit dem griechischen Finanzminister, der der Troika den Steinbrückfinger zeigt, fabriziert haben, um die Deutschen zu nasführen, die in einem halben Jahrhundert 2x Europa verwüstet hätten (den Satz hat er sich so teuer patentieren lassen, dass er ihn seitdem bei jeder auch unpassendsten Gelegenheit regurkitiert) und sich nun über Finger aufregten. Und an die Meinungsmonteure der TV-Jauchgrube: Die hätten mit Hilfe des Varoufakis-Videos einen „griechischen Politiker am Stinkefinger durch’s Studio gezogen, damit sich Muddi und Vaddi abends nach dem Tatort nochmal schön aufregen können: ‚Der Ausländer! Raus aus Europa mit dem! Er ist arm und nimmt uns Deutschen das Geld weg. Das gibt’s ja wohl gar nicht. Wir sind hier die Chefs!'“ Noch bevor er aber dafür seinen Grimme-Preis abholen konnte, hatte sich der ziegengefickte Kleinschwanzreimer schon schön zu Muddi und Vaddi in die Couch gesetzt, wo sie alle recht und einig Teil der rassistischen Erneuerungsbewegung in D-land geworden sind. Und da greint er dann, er fühle sich „erschüttert in allem, an das ich je geglaubt habe“, weil seine Regierung ihn nicht schützt und die Justiz wegen Beleidigung ermittelt.
„Sackdoof, feige und verklemmt / ist wohl der Böhmermann, das leere Hemd“. Wenn die Scheiße, mit der er schmeißt, mal nach im Cyberspace unbekannten Realgesetzen der Schwerkraft auf ihn zurückgeflogen kommt, heult der Bub. Für solche und geringere Anwürfe haben andere schon robustere Reaktionen auf die Glocke gekriegt, da mag er mal nachdenkend die Luft anhalten, warum er nun „in so ’ner Art Einspielerschleife gefangen“ ist, obwohl er vielleicht gar nicht mehr mitspielen will. Aber so ist das mit diesen medienblasierten, nur-virtuellen Gernegroßgestalten, die über selbstreferenzielles, eigenlöbliches und sich untereinander bloß bestätigendes Feixen und Kichern im Elektrobunker seit ihrem Abi nicht hinausgekommen sind. Beim ersten gepushten Zufallserfolg halten sie sich schon für unangreifbare Überflieger einer als Medienkritik ausgeflaggten Geschäftsidee – und wenn sie nach dem ersten Realitätscrash dann auf ihr kaputtgeflogenes Spielzeug gucken, geht das Gejammer los.
Dabei hätte Böhmermann doch objektiv nun endlich seinen Platz gefunden im Stammland der verfolgenden Unschuld und des schlechten Benehmens, der kleine Junge, der mit Steinchen scheißt, im großen Ganzen. Ganz wie das historische Vorbild, nämlich DER kleine Junge, der Mitte des 18.Jahrhunderts in Genua durch paar Steinwürfe auf österreichische Besatzungssoldaten während deren Erbfolgekriegs den dortigen Volksaufstand ausgelöst haben soll. Balilla genannt, geisterte er eine Weile ziel- und herrenlos in erst der Genueser, dann der italienischen Volksheldengeschichte herum, bis er seinen Platz im Pantheon Mussolinis und der faschistischen Jugend fand. Da würde der Bub vielleicht gar nicht hingewollt haben, aber das interessiert kein Gelöt – sowenig wie die rassistische Massenbewegung in D-land seine gelegentlichen Sticheleien gegen die AfD interessiert, wo sie doch jetzt den Türken endlich wieder -rotrotgrün neoliberaldemokratisch abgenickt- Ziegenficker nennen dürfen. So schnell und ungewollt vereint sich, was nur auf den ersten Blick nicht ganz zusammengeht und der braune Ungeist antimuslimisch-rassistischer ‚Political-Correctness‘-Feindschaft landet im Mainstream und beim Ziegenficker. Speziell die Grünen, stets am Stärksten mit fäkaler Klappe, sind endlich auch zu sich selbst gekommen, der Kreis zum Arschloch ihrer parlamentarischen Anfänge ist rund und fest geschlossen. SO geht Satire.

…DEREN EINSATZ EINES BESSEREN WÜRDIG GEWESEN WÄRE STATT UNWÜRDIGE KRIEGE ZU ERKLÄREN
Die Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe…
in Romanform neu zu erzählen unternimmt A.PENNACHI mit „Canale Mussolini“ – und in Mussolinis Strümpfe ist er zu diesem Behufe tatsächlich auch hineingeschlüpft. Ähnlich wie in Énards „Zone“ wird hier mit solipsistischer Geschwätzigkeit und starkem Tobak ein vehementer Sog erzeugt, der Authentizität suggeriert und dahinter den Faschismus schönredet. In gnadenloser Plaudertönigkeit ergießt sich ein scheinbäuerlicher Textschwall wie aus dem Diktiergerät, immer wieder schweinchenschlau interpunktiert von aufweckenden Direktansprachen an die Lesenden in der Art „Wie bitte, was sagen Sie? Ob das die berühmt-berüchtigten Pontinischen Sümpfe waren? Nein. Sumpf heißt nicht, dass alles unter Wasser steht. Lateinisch palus, oder paludum im Singular, heißt tatsächlich…“ oder „Was wollen Sie denn? Kommen doch nächstes Mal Sie und legen die Pontinischen Sümpfe trocken!“ Der Inhalt dazwischen müsste auf deutsch in etwa so lauten: Ja, sicher, die Diktatur, die Rassegesetze, die Verfolgungen, das mit den Juden und dem Gas und dann die vielen Kriegszüge, aber die Autobahn hat der Adolf auch gebaut und Arbeitsplätze geschaffen, wer fleißig war, konnte sich was aufbauen und was hätte man auch sonst tun sollen? Das ist nicht ganz korrekt übertragen: die ansatzweise negativen Erwägungen erreichen nicht einmal die 5%-Hürde.
„Und nun raten Sie mal, wer am nächsten Morgen am Bahnhof von Littoria stand“, der faschistischen Musterstadt in den Sümpfen und Geburtsort Pennacchis 1950 (heute Latina) – der Duce selbstredend; denn der fiktive Peruzzi-Clan, aus dessen Nähkästchen der Autor 50 Jahre Familiengeschichte der Sorte ‚la duce vita‘ ausbreitet, war ganz dicke mit Mussolini, hat doch ein alter Onkel mal mit diesem zu dessen sozialistischen Zeiten die Zelle geteilt. Den zeitgeschichtlichen Mantel stiftet das gigantische Trockenlegungsprojekt über fast 800 Quadratkilometer Sumpfland im Südosten Roms. „Dann aber kommen der Duce und Rossoni, beschließen, den Canale Mussolini auszuheben, und wo Julius Caesar, Pius VI. und Napoleon gescheitert waren, legen sie in null Komma nichts alles trocken.“ Immerhin wird ein Helfer Rossoni noch erwähnt, das wird wohl eine Reminiszenz des Literaten an seine 30jährige Vergangenheit als Kabelarbeiter sein.
So können wir der braunen Brühe runde 450 Seiten lang beim Trocknen zuhören. Einen widerlichen Höhepunkt bildet die Darstellung der finalen Waffengänge in Italien zwischen faschistischen und alliierten Truppen, als 30000 Gefallene auf beiden Seiten zu verzeichnen waren und von Pennacchi auch buchstäblich verrührt und verzeichnet werden: „Zwanzigjährige Jungs, aus der ganzen Welt hier zusammengekommen, um zu sterben“. Das ist keine Verharmlosung mehr, sondern eine obszöne Verdummkaufung vom Ekligsten, wie sie aus D-land allerdings hinreichend bekannt sind und insofern auch nicht weiter beredet werden müssten. Abgesehen vom -wiederum ähnlich wie bei Énard- originellen Witz oder der freihändigen Treffsicherheit mancher Schilderungen, die hier als Süßungsmittel fungieren, gibt es allerdings noch 2 interessante Punkte zu benennen.
Dass Pennacchi seine penetrante Mussolinitümelei so niedlich, malerisch, menschlich-allzumenschlich der landlichen Bevölkerung in die Münder legt, ist nicht nur eine Verfälschung, sondern auch eine ungebührliche Hinterfotzigkeit, selbst wenn die so befrachteten Objekte jenen Trockenlegungsprogrammen des Duce in den Pontinischen Sümpfen angehörten und eine gewisse Dankbarkeit auf den ersten Blick plausibel erscheinen mag. Historisch wurden solche Programme (bei uns in der Oxentina gab es -nicht nur, aber auch- während des Faschismus ebenfalls Wassererschließungsaktivitäten zuhauf) zur Entlastung verelendeter Regionen im Nordosten aufgelegt, insbesondere aus dem Friaul und Venetien wanderten Arbeitskräfte ein, was die Pontinischen Sümpfe betrifft zudem welche aus dem Ferraresischen. Diese 30000 depravierten Umsiedelnden hatten sich zuvor als qualifizierte Bauern auszuweisen, um ihr Stück Land (+ 6 Kühe) zur Bewirtschaftung und insgesamt Urbarmachung im Sumpf zu ergattern, es kam dann Anfang der 1930er aber auch ein Großteil Ungelernter vom Tagelöhner bis zum Frisör mit gefälschten Papieren in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Nicht selten ist manchem sein Kolonistenversuch denn auch scheiternd über den Kopf gewachsen. Aber selbst oder gerade so eine speziell zusammengesetzte Landbevölkerung hatte ein breiteres Spektrum bis hin zu Opposotionellen und Partisanen aufzuweisen, als es Pennacchi mit seiner enggestellten, aber umso wort- und bildgewaltigeren Manipulation vorführt, als wenn die Peruzzis und deren Horizont repräsentativ wären – ein überaus giftiges Lob des Landlebens, ohne Süßung gar nicht verrabreichbar.
Schließlich outet sich der Ich-Erzähler ausgerechnet als ein ziemlich studierter Pfaffe, bei dem die klerikalfaschistische Tradition sicher schneller und leichter ihre Ein- und Abdrücke hinterlassen kann. Es wäre hier erwartbar oder dem Autor doch möglich gewesen, den überraschenden Dreh zu einer anklagenden Umkehr in Richtung ebenjener mussoliniverliebten Erzählperspektive zu nutzen, die wie eine offene Abwasserrinne seinen ganzen „Canale Mussolini“ hindurchmüffelt, stellenweise gar zu stinkend. Aber nein! Die Volte ist affirmativ und Pennacchi steht so fest hinterm Duce wie Énard mittels Pound und Ungaretti auch fast. Warum tut er das, der ehemalige Kabelarbeiter, der gut schreiben gelernt hat und -ähnlich Mussolini- früher noch engagiert im linksradikalen Milieu unterwegs war? Wir wissen es nicht und wollen es auch nicht wissen, sondern halten es mit den Helvetiern: „In den Kanal, in den Kanal, mit einem Gewicht an den Versfüßen!“ Ach, da steht’s ja doch: Noch früher, als Jugendlicher, sei er beim neofaschistischen MSI gewesen. Alte Liebe rostet nicht, viel weniger noch, wenn sie 1950 aus dem sumpfigen Schoß eines faschistischen Musterstädtchens gekrochen kam. Hier ist sie als Farce eines abgefackten Don Pennillo wiedergekehrt, der dafür auch noch den bedeutenden Premio-Strega-Literaturpreis bekam, was den nachhaltigen Erfolg von Berlusconis schwarzbrauner Gedächtnis- und Gedenkpolitik gegen alles Antifaschistische exemplarisch belegt.
Einer, der die Welt im Kopf nicht aushält
Als Pennacchi 2012 seinen Literaturpreis erhielt, damit fröhlich den Einzug der Faschismusversteher in den kulturellen Leit-Salon besiegelnd, meldete sich ein anderer und 1975 noch weiter unten in ungerechte Welten hineingeworfener Underdog aus seinem früheren Leben in D-land ab, um in seinen eigenen heilig verzweifelten Krieg zu ziehen. Wie aus Denis Gerhard Cuspert erst Devil’s Son und Gangxta-Rapper Deso Dogg wurde und sich die Entwicklung über den islamistischen Sänger-Prediger Abou Maleeq bis hin zur „Celebrity des globalen Jihad“ Abu Talha Al-Almani fortsetzte, das und anderes ist im Bändchen „Jihad Rap“ (aus der testcard-Reihe ‚Popgeschichte‘) von Y.KUNZ spannend, verständig und mit erstaunlichem Durchblick geschildert. Ihre intelligente und weltenoffene Recherche „an den Rändern muslimischer Subkulturen“ in diversen westlichen Dominanzgesellschaften von London bis Berlin fördert für unvoreingenommen Lesende einen veritablen Schatz anregender Einsichtsbrillianten zu Tage. Sie liefert auf knapp 140 Seiten mehr Substanzielles zum Jihad-Thema als die letzten 140 Titel der deutschen Büchergeschichte zusammen auf die Waage brachten; und auch mehr als nur ein anhand schlagender Beispiele kurz und bündig hervorragend informierendes und gründlich analysierendes Sachbuch. So gelingen Kunz mit sicherem Strich knappe UND treffende Skizzen, philosophische Miniaturen mit Pfiff und literarische Verdichtungen voller Witz.
Denis Cuspert etwa, afrodeutsches problem child von Kindsbeinen an, ständig vergebens auf der Suche nach Identität und Zugehörigkeit, schon vor der Volljährigkeit ein Strafregister, von dem die erfolgreichen Gangsta-Rapper trotz aller Härtner-Posen grade noch die Rücklichter sahen („alles Sonnenbank-Gangsta“), war als Deso Dogg eine echte Knastgeburt – aber „hatte nicht erfasst, dass das Gangstatum à la Bushido weniger mit Realness per se als mit einer ausgebufften Marketingstrategie zu tun hat, mit Performanz und Medialität. Und moralgetrieben wie er war, prangerte er dies an.[…] In der Persönlichkeit von Deso Dogg jedoch fehlt dieser Abstraktionsraum für ironische Brechungen und auktoriale Distanz zum Gesagten,[…] sein Hass, seine Verzweiflung waren immer echt.“ Als „Ich scheiß‘ auf Geld“-Deso Dogg verkörperte er gegenüber dem Gangsta-Wannabe-Shit „eine stark politisierte, sozialrevolutionäre Facette“ eher in der Tradition des stramm linken Oriental-HipHop der Kreuzberger Islamic Force. „Ich scheiß‘ auf Gangster-Rap,“ sagte er, „ich bin gegen das System, gegen den Staat, gegen alles was gegen mich ist.“ Er war der antikapitalistische, antifaschistische Klassenkämpfer und Rumpelrapper, mit „einem gereimten Flächenbombardement westlicher Politik“, ganz selbstverständlich präsent auf antirassistischen Soli-Konzerten oder Kreuzberger Myfesten. Und es gelangen ihm schon auch paar schlaue und schöne Texte wie „Kein Nigga“ 2006: „Ich bin kein Nigga wie die Nigga die sich Nigga nennen / Nennst du mich ein Nigga lernst du meine Glock kennen / Also renn Nigga renn Nigga Nigga renn / Ich bin ein Afrodeutscher den man kein Nigga nennt“. 2009 trat der vom Kriminellen durch Polit-HipHop zum Rapper Geläuterte als solcher zurück, nach Kunz wohl wegen mangelnder Aufmerksamkeitsfindung, während „Dutzende deutscher Gangsta-Rapper an ihm vorbei in die Charts drängten“, deren Getue und nichtvorhandene „Authentität“ (kein Grund, hier ein klassistisch fett ausrufgezeichnetes sic hintan zu setzen) ihm stets so verhasst waren. Und läuterte sich abermals: zum Anashid-Sänger und Islamprediger.
Als Abou Maleeq lieferte er den Sound, den Arid Uka auf den Ohren hatte, als er 2011 die ersten Jihad-Toten auf deutschem Boden produzierte: 2 US-Soldaten vom Frankfurter Terminal 2 unterwegs nach Afghanistan, 2 weitere schwer verletzt, als er auf einen Fünften anlegt, blockiert die Waffe, er flüchtet vom Bus ins Flughafengebäude, lässt sich kurz darauf stellen und verhaften. „Dass das Leid muslimischer Frauen in Afghanistan einen schüchternen 21jährigen Jungen aus Frankfurt-Sossenheim, der noch nie eine Freundin hatte, zum terroristischen Killer macht, wirkt lebensfremd,“ schreibt Kunz, „belegt aber auch, dass sich der Tat-Trigger zum Töten auch bei nicht krankhaften Schizophrenikern außerhalb des objektiv Erlebten finden kann. Eine im Imaginationsraum des Internets zusammengeschnittene Online-Verblendung reicht für den Klick im Kopf.“ Auch den Weg dieses depressiven, im Vorjahr schon geschassten Gymnasiasten, der seinen Post-Job am Flughafen den Eltern als freiwilligen Sozialdienst bis zum Studienbeginn im Herbst verkaufte, für Monate im Zimmer verbunkert und „abgetaucht in die digitale Subkultur des Online-Jihadismus“, vermag sie gleichermaßen individuell wie exemplarisch, mit Tiefgang, Kontext und Details zu einer Lebendigkeit beschreibend zu erwecken, die Unerhörtes zu berichten hat und so selbst ein feines Stück Literatur darstellt. Ebenso sind die ausführlichen Interview-Teile mit Aki Nawaz („Ich bin Muslim, ich bin schwarz, ich bin Punkrocker“), der 2006 als „Suicide Bomb Rapper“ (so die britische Bildzeitung SUN) G-Had weit über Großbritannien hinaus den abendländischen Mehrheitsgesellschaften ein derartig Maß an Provokation und Perspektivwechseln einschenkte, dass sogar die ZEIT ein Interview mit ihm brachte (das wir uns aber schenken können, weil diese heutigem Bildungs- und Großbürgertum in D-land als Qualitätsjournlismus angedrehte Wochenzeitung noch jedes Interview mit unverstandenen Revolutionären durch aufgeblasene Nullsätze und abgestandene Billig-Ressentiments versaubeutelt hat, ebenso z.B. gegenüber Werner Bätzing – siehe Newsletter 21), erste Sahne, da Kunz es versteht, richtige Fragen aus dem Gespräch heraus in richtiger Form anzubringen – und deshalb eben nicht ZEITgemäß am Ende wie der Ochs vorm Berg steht und nur noch blöde fragen kann: Ist der Paki nun „ein Clown oder ein Terrorist?“
Mit solchen schlaglichtartigen Erhellungen reißt sie einen ganzen Kosmos „muslimischer Subkulturen“ auf, deren Jihad Rap entsprechend vielgestaltig ist: „Manchmal kluge Husarenstücke oder Ausdruck muslimischer Redefreiheit. Aber auch Illustration maximalen Stumpfsinns, effektives Marketingtool, plumpe Propaganda oder ebenso plumpe Metapher für den täglichen Wahnsinn des Lebens.[…] als koketten Flirt mit dem Verbotenen oder als Eskalationsstufe der Verbalaggression.“ Ihr musiksoziologisch-jugendkultureller Ansatz ist ein ‚Sesam-öffne-dich!‘ für jene dem eurozentrischen Sneer der Herrenvölker stets verschlossen bleibenden Welten. Kunz beherrscht ihr investigatives Handwerk, hat zudem Übersetzung und Angewandte Linguistik studiert, ihr theoretisches Rüstzeug ist gut sortiert von Said über Jameson bis Virilio und ihre munter ausprobierten instrumentellen Leitfragen -etwa ob die östlichen Kids Jihadis werden wollen so wie die westlichen Kids Gangster oder Jihad Rap als Punk bzw. ‚Salafismus‘ als jugendlichen Aufruhr zu untersuchen- tragen sie weiter als es allen deutschen Bücherschreibenden zum Jihad bislang gelang und absehbar gelingen wird. Die Schweizerin hat nämlich einen (so selbstverständlich, dass sie es gar nicht erklären muss) von Respekt, Gerechtigkeitssinn, Kommunikativität und Offenheit geleiteten Zugang zur Welt, dass ein ebenso schönes wie sachgerechtes Buch zum diffizilen Thema dabei herauskommt. Anfangs tastet sie sich noch etwas unorientiert voran, weil ihr Weg sie weit weg von den haltgebenden Ressentiments, Rassismen und in Dogmen gemeißelten Gewissheiten des weißen Mainstreams auf gaanz unsicheres Terrain führt, aber nicht lang. Mit Soumayya Ghanoushi findet sie schnell eine Historikerin, die die ideologische Legitimatorik der Jihadis nicht im Islam sieht, sondern in der Tradition des nihilistischen Anarchismus wie Marx ihn beschrieben hat (nicht „formulierte“, wie Kunz das etwas unglücklich formuliert). Wer statt solcher Herrschaftsschablonen wie dem nur dämlichen Gerede vom „Islamischen Faschismus“ (im Buch unter „terror sells“ anhand des gleichnamigen Bestsellers von Abdelsamad verdient kurz abgehandelt) tatsächlich Substanzielles dazu erfahren will, warum bloß so viele europäische Jungs (und Mädchen) „von Dinslaken bis Portsmouth, Vilvoorde und Biel zu Tausenden die Koffer packten“, um am Jihad gerade der übelsten Truppen gerade in Syrien teilzunehmen, „von denen einige als Reiselektüre den ‚Koran für Dummies‘ mitbrachten.[…] Was haben sie gesucht? Was haben sie gefunden?“ – wird auf Kunz‘ 140 Seiten reichlich fündig.
Zum Schluss schließt sich auch bei ihr ein Kreis, als sie die eigene Poetic Pilgrimage in der Züricher ‚Roten Fabrik‘ enden lässt, bei einem Konzert des Muslima-MC-Gespanns gleichen Namens, Heimspiel für Kunz, die viele lange Jahre dort die FABRIKZEITUNG geprägt hat. Die afrokaribischen Hijab-Rapperinnen haben, wie alle anderen auch, ihren eigenen Islam und leben ihren eigenen Jihad. Sie „sind wie Scharniere zwischen den Welten. Von Daesh würden sie getötet, von deren Sympathisanten im Westen erhalten sie nach jedem größeren Auftritt E-Mails: ‚Boko Haram soll euch holen!'[…] Von den Rechten im Westen werden sie getreten. Ist ihnen schon passiert, manchmal werden ihnen auch auf offener Straße die Kopftücher runtergerissen.“ An Beschimpfungen wie „Bin Ladens Harem“ und „Taliban-Fotzen“ lässt sich nebenbei erkennen, wie wenig vom Jihad des Daesh beim antimuslimischen Rassismus der herrenvölkischen Dumpfbacken bislang angekommen ist. Poetic Pilgrimage fühlen sich wohl mit ihrem Islam, nach Muneera ist er „wie Wasser. Man kann es in ein Gefäß gießen, egal, was für eine Form es hat. Er passt in die Form der Jamaikanerin, der schwarzen Britin, der Frau.“ Sukina beschreibt ihren Jihad als „Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und Spiritualität“ und als eine Art Selbstübertölpelungstaktik, um sich aufzuraffen. „Ich bin nicht wie all die crazy Straßenchicks im Pornolook“, rappen sie, „ich bin eine muslimische Juanita, eine afrikanische Prinzessin, eine HipHop-Senorita“. Für den umtriebigen Polit- und Kulturaktivisten Nawaz ist Jihad „einfach ein arabisches Wort für Widerstand und Kampf“ und wie dieser trommeln „auch Poetic Pilgrimage für eine vollständigere, differenzierte Geschichtsvermittlung“ und Weltsicht, die Respekt und Gerechtigkeit auch praktisch für die ungezählt unter den Teppich gekehrten Leichen im Keller des sauberen Westens einschließt. Kunz‘ Büchlein hilft geneigten Weißen beim Differenzieren.
Resultate:
ÉNARD, Zone, Berlin 2010 – sofort weiterverkaufen.
BÖHMERMANN, Schmähgedicht, auf allen Kanälen 2016 – vergessen.
PENNACCHI, Canale Mussolini, München 2012 – Ofen mit anschüren.
KUNZ, Jihad Rap, Mainz 2016 – niemals verkaufen.


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