Gutenachtgeschichten zwischen Bergen und Meer, Dachsen und Wildschweinen, Siebenschläfern und Waldkäuzen / IIIa

5.3.2019 silliguri LITERATUR-Tips aus der Natur

DIE VIELLEICHT GEEIGNETEN – Peter Høeg’s unbearable Sigh of the oppressed creature

„Er hatte uns von Madvig erzählt. Madvig war ein dänischer Philologe und Schulpolitiker im vorigen Jahrhundert. Seine Arbeiten in Griechisch und Latein hatten Dänemarks Namen in die ganze Welt hinausgetragen. Stuus sagte, Madvig sei nie in Griechenland gewesen und nur einmal in Italien, es hätten ihn anscheinend nicht so sehr das Land oder die Menschen interessiert“(286). Seit diesem nunmehr vorvorigen Jahrhundert hat sich daran nicht viel geändert: Das Licht des besseren Wissens wohnt im Norden und erhellt sich von dort aus die Welt, wie’s ihm grade gefällt. Zu den strahlerweißen Oberleuchten, die ihre nie dagewesenen Expertisen verbreiten, hat sich bloß ein Heer trüber Funzeln gesellt, die noch viel weniger Ahnung von irgendwas außerhalb ihres virtuellen Dorfes haben, aber dafür zu allem eine als kompetente Beurteilung verkleidete Billigmeinung absondern, gratis auf allen Kanälen. Seoirse Siuineir ist so jemand. Und die abgesonderte „Kritik“ lautet etwa: „Mein erstes Buch des hochgelobten Peter Høeg hat mich nicht überzeugt.“[1] Alles an ihr ist so falsch wie Biehl selbst, der große Boss der ebenso angesehenen wie teuren Privatschule Biehl, in der allerdings auch einige Waisen- und Problemkinder aufgenommen werden, ‚die vielleicht geeignet‘ wären zur -unwissentlichen- Teilnahme an einem heimlichen Experiment, welches gleichfalls die Kinder der Finsternis durch unerbittliche Autorität, Ordnung, Disziplin, Strenge, Leistungsforderung, Messbarkeit und Präzision bildend ans Licht zu führen plant; DER PLAN ZUR ABSCHAFFUNG DES DUNKELS, wie Høegs „De Måske Egnede“ für den deutschen Buchmarkt umgetauft wurde, ist nämlich der jenes finster aufgeklärten Gegenspielers unseres Romanhelden. Bestenfalls hat sowas im Flug sich geirrt: Früher hieß es doch, wer -offen, einzeln, ungeschützt- Indien bereist, also das Land und seine Leute besucht, solle sich von den 4 Internationalen Flughäfen Delhi als Landestadt aussuchen, weil dort der Kulturschock noch am Softesten sei. Bombay oder Madras wären schon krasser. Wer als Frischling aber in Kalkutta[2] beginnt, wird einen Hirnkollaps kriegen und so auch rein gar nichts verstehen. Ähnlich verhält es sich, wenn jemand von Høeg allenfalls „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ -als Filmchen- kennt und dann gleich mit seinem brutalstem Kracher in dessen gutes Werk und Wirken einsteigen muss.
Hier nun wird die Geschichte dreier auf unterschiedlichste Art verwaister Heimkinder erzählt, die sich auf verquere und doch völlig schlüssig erscheinende Weise zusammentun, um in ihrer Welt aus Zwängen und Strafen, Unterdrückung, Gewalt und Missbrauch zu überleben, vielleicht einen Weg woandershin zu finden, jedenfalls den Plan zu ergründen, der hinter alldem steckt, was so faul erscheint und mit ihnen eigentlich passiert. Es ist gleichzeitig die Geschichte aller krankhaft kaputtgemachten und wohlmeinend kaputtreparierten Kinder, von denen manche mit 14, dem Alter der Strafmündigkeit, schon 2 Meter Akten beim Jugendamt gesammelt haben und heutzutage z.B. nach Italien in ein grünes Gefängnis abgeschoben werden, wo sie 1 Jahr Intensive Sozialpädagogische Einzelbetreuung bei einer sog. Projektfamilie absitzen. Høegs Romanheld ist am Ende des Buches genau 14, sieht eine Chance und schafft es, sie zu ergreifen – sein Autor gönnt ihm diesen Deus ex machina (wohl wissend freilich, dass im wirklichen Leben solche -ihre Volljährigkeit überhaupt erreichenden- verlassenen Krummkinder ziemlich gerade und mit statistischer Wahrscheinlichkeit auf ihr düsteres Dreieck aus Knast, Klapse, Strich zuhalten, das ihr Dasein lebenslänglich umgibt). Vor allem gönnt er seinen Lesenden, sofern sie bis zum nur bitter vorstellbaren Ende Peters himmelschreiend ungerecht ausweglosen Höllenparcours mitgehen, die Erlösung durch jenen herabfallenden Stein, der so all die angestaute Wut und Trauer nicht in lähmendem Entsetzen zurücklässt; sondern ein Fenster nach draußen ins Dunkle aufstößt, wo Kreativität und Alternativen, eine Vielfalt von Plänen, diverse und doch ebenso gültige Wahrnehmungen und Vorstellungen von Zeit immerhin denkbar werden.
„Was ist Zeit?“ lautet bereits der erste Satz und von allen 9 Lesefrüchten dieses Winters ist Høegs Roman der einzige, der mit einer Frage beginnt, gestellt von eben Peter. Unsichtbar wie die Zeit mit dieser verknüpft ist der heimliche Plan dahinter, das hatte der stets gut zuhörende und hinschauende Waisenknabe schon mit 11 von einem Leidensgenossen erfahren: „Er war der erste, der auf die Idee kam, es müsse einen Plan geben. In gewisser Weise waren alle Heime gleich. Manche waren geschlossen, und manche hatten eine bestimmte Art Werkstätten, während andere andere hatten. Dennoch war die Empfindung die gleiche. Alle miteinander waren gleichsam durchdrungen von straffer, straffer Zeit. Dies hatte ich gespürt, aber selber nicht ausdrücken können. Bis Humlum es sagte. ‚Es muss einen Plan geben‘, sagte er, ‚warum sollte es sonst so wichtig sein, dass man genau ist, oder wie?‘ […Es] vergingen drei Jahre, bis wieder jemand von der Zeit sprach. Dann, im Laboratorium, sagte Katarina, wir sollten sie untersuchen.“(39) Die Ältere, der Mittlere und August, der jüngste und verlorenste der Drei, setzen dem ihnen angetanen Experiment und dem Plan dahinter ihr eigenes Experiment entgegen, ihr Plan dabei: Die Selbstaufklärung darüber, was nicht erklärt worden ist, zur Befreiung von der sie erdrückenden Herrschaft. Ihr Widerstand macht die 3 schmalen Frage- zu einem fetten Ausrufezeichen und so kriegen sie das volle Brett der provozierten Macht.

DIE UNERTRÄGLICE ERNIEDRIGUNG MENSCHLICHEN SEINS UND WIE SICH DREI HEIMKINDER DAGEGEN WEHREN

Die Haupthandlung vollzieht sich während weniger Monate in den frühen 70ern und der Ich-Erzähler berichtet sie aus einer Distanz von gut 20 Jahren, was zum Einen das hoch reflektierte Niveau im spannenden Erlebnisbericht eines 14jährigen sog. Schwererziehbaren mit bereits mehreren Heimwechseln und Regelverstößen auf dem Kerbholz erklärt; zum Andern eröffnet es dem die schmerzhaften Erinnerungen niederschreibenden Erwachsenen die Möglichkeit zu psychoanalytisch, sozialpsychologisch und kulturphilosophisch verschärften Betrachtungen und Untersuchungen, die im Verlauf der zunehmend rasant einem erwartbar harten Finale zustrebenden Handlung diese immer öfter und aufschlussreicher aus jener 2.Ebene scheinbar unterbrechend begleiten, im Effekt vertiefen und so die Spannung noch doppeln. Schließlich eröffnet sich durch die beiden Subjektiven derselben Person eine 3.Dimension, die Raum für Zweifel lässt – ob etwa die Schilderungen des Jungen glaubwürdig oder wahnhaft, die des Erwachsenen rachsüchtig verzerrt sind, ob deren Wahrnehmungen zu trauen ist oder wie sie überhaupt qualifiziert sind – wo kämen wir denn hin?
Høeg gestaltet das schlau und so geschickt, dass gängige Lesarten sich sogar auf das Glatteis „autobiografische Bewältigung“ haben führen lassen, als ob der kleine Peter Høeg damals durch seine eigenen Leidensjahre an einer ähnlich autoritären Privatschule wie jener Biehls derart traumatisiert worden wäre, dass er als arrivierter Autor geradezu zwangsweise einen solch ‚düsteren‘ Roman hätte schreiben müssen. Das gibt dann peinliche Authentizitätspunkte, noch welche für die akribische Recherche drumrum und gut, dass das auch mal gesagt wurde – aber jetzt wollen wir doch lieber wieder die leichteren Krimis. Das ist natürlich eindimensionaler Quatsch von fast Biehl’scher Breite. Høeg ist bloß ein hervorragender Schriftsteller, der sein Handwerk beherrscht. Um einen guten Roman zu schreiben, ist ein reicher eigener Erfahrungsschatz sicher von hohem Nutzen; es bedarf aber ebenso der Kenntnisse und Fertigkeiten, die einzelnen Schätze erstmal zu sehen und zu sammeln, dann zu heben und zu verarbeiten und sein Herz gleichfalls offen zu halten wie die Augen für alle auch sonst nur denkbaren Begegnungen und Anstöße von außen – als graduierter Literaturwissenschaftler hat Høeg, mag er seine Studienzeit auch als verkopfte Leidenszeit verfluchen, das technische Rüstzeug zweifellos beisammen; es kommt auch hier freilich noch ein Drittes hinzu, genaues Hinhören und tiefe Empathie sind Teile davon – Høeg kann das so gut, dass ihm nicht ein falscher Ton unterläuft, auch nicht in den jeweiligen Sprachen der anderen Figuren wie sie von seinem Helden erzählt werden, der spürbar schwarze Löcher und weiße Flecken, Sprechblockaden und Behinderungen im Ausdruck hat und gerade darum um jedes Wort wie ums Überleben ringt. Der Autor ist ein kosmischer Räuber („Ich raube und stehle von Freunden und anderen Büchern“), der sich an den Schätzen seiner Begegnungen schöpferisch bereichert – freilich einer, der die Beute mit den Bedürftigen teilt, nachdem er sie wie „ein Medium“ zur höheren oder tieferen Kenntlichkeit umgearbeitet oder auch transzendiert hat. Er ist, bringt und braucht die Phantasie an der Macht. Mit solchen wie Biehl ist die Mathematik an der Macht, die kalte klügelnde Kraft des zivilisatorischen Diktats, die scheinbar Gutes will und doch nur Böses schafft.
„Jetzt, später“, schreibt der Erwachsene, „kann man sehen, dass wir tatsächlich das meiste begriffen hatten. Sie hatten einen großartigen Plan gehabt. Den Plan, alle Kinder in der dänischen Volksschule zu versammeln, auch die gestörten und die straffälligen, auch die schwierigen Schüler, alle bis zur Schwachsinnsgrenze. Biehls Privatschule sollte zum Modell für diese Integration werden. Die Schule hätte ein Laboratorium sein sollen[…] Um diesen ersten Versuch sollten die Ordnung und Genauigkeit der Schule den festen und sicheren Rahmen bilden. In den letzten Jahren habe ich nach und nach die meisten Papiere von damals gefunden[…] Aus ihnen geht hervor, dass es von 1964 bis 1974 vierundfünfzig größere Versuche mit der Integration vorbelasteter Schüler in die dänische Volksschule gegeben hat[…] Wenn ich ihre Anträge von damals lese, auf Geld und Unterstützung für das Projekt, verstehe ich sie nicht. Sie sind wie Biehls Erinnerungen. So flüssig geschrieben. So gut gemeint. Und doch gewissermaßen ohne Verbindung zu dem was wirklich geschah. Als hätten sie eine wunderbare, phantastische Theorie von Zeit und Kindern und Gemeinschaft gehabt. Und völlig isoliert waren dann ihre Handlungen.“(223f) Nach dem dritten erlittenen Vergewaltigungsversuch hatte Peter den Absprung von der Königlichen Erziehungsanstalt in Biehls Privatschule noch als Rettung empfunden. Aber dort wurde mit aller nötigen Gewalt und zu verborgenen Zwecken weiter an ihnen herumgedoktert. Der störrische Widerstand der 3 Kinder und generell „vieler kleiner Menschen“(9) hat den Plan durchkreuzt, mit einer ‚Werkstatt der Sonne‘ jeden noch so letzten dunklen Winkel auszubrennen, in dem Zweifel, Unklares, Widersprüche, Abweichungen, Unberechenbarkeiten sich verkrochen haben mochten. Und doch wurde keiner der Verantwortlichen je belangt. Stattdessen nahm es von den 3 nicht mehr geeigneten Werkstücken nur für Peter ein gutes Ende – und das nahm er sich selbst und um den Preis eines entscheidenden Beitrags zum Verschweigekartell. Er muss das als Verrat an Katarina empfunden haben, auch wenn in seinen Akten die Phrase vom Schwierigen bis Unmöglichen stand, „stabile emotionale Beziehungen herzustellen“ und so quält es ihn und er sich über 20 lange Jahre mit der Suche nach dem Plan hinter dem Plan.

WIE IST DIE ZEIT ZU STACHELDRAHT GEWORDEN? WENN WIR SELBER DAFÜR MITVERANTWORTLICH SIND, WIE HAT SIE SICH DANN UM UNS GESCHLOSSEN?°

„Hinter ihrem Plan muss es noch einen anderen geben. Und von dem wissen sie nichts“, hatte Katarina schnell geschnallt, und: „Es gibt etwas Größeres hinter ihnen.“(206) Später klingt das wie ein Vermächtnis, ein unabweisbarer Auftrag an den Jungen. Der Erwachsene findet es schließlich heraus – es wäre auch ein Wunder, wenn Peter Høeg mal einen Roman ohne weibliche Figur als die treibende Kraft geschrieben hätte: „Ihr Plan betraf das ganze Universum[…] Sie sprechen in den Anträgen nur davon, den Kriminellen und Minderbegabten zu helfen[…] auf dem Grund ihrer Gedanken, als ein fernes Ziel, hatten sie die ganze Welt. ‚Wir arbeiten für die Herrlichkeit künftiger Zeiten‘, schrieb Biehl[…] Wenn es ausgesprochen werden musste, nannten sie nur Gruppen von Kindern. Ihr Ziel aber war das Universum[…] Alle waren sicher, dass sie ewige Werte verteidigten[…] dass ihre Gedanken mit künftigen Generationen[…] hinaus in die Welt fliegen und sich über das Land verbreiten würden, und darüber hinaus, vielleicht sogar bis zu den Mauren. Dass man[…] alle dazu bringen könnte, ihre Ideale von Fleiß und Präzision zu respektieren.“(225f) Es ist wie in diesen rätselhaften Thrillern, wo der Schlüssel schon von Anfang an irgendwo direkt vor unserer Nase hing, aber einfach nicht bemerkt wurde. Für Biehl war „der Islam, die Religion der Mauren, geradezu ein Werk des Teufels“ und ohne deren Niederlage bei der Schlacht von Poitiers „hätte die moderne Zivilisation nie existiert.“(128) Das Schulwappen, eingraviert auch in die Holztruhe mit den geheimen Schülerakten in Biehls Büro („unvermeidlich zu übersehen, dass sie nur ein einfaches Möbelschloss mit drei oder vier Zuhaltungen hatte“/27), bildeten die beiden Raben Odins, die morgens zu ihren Aufklärungs- und Überwachungsflügen starteten, um ihrem Herrn abends alles Gesehene brühwarm zu berichten: Sinnbild einer Gefolgschaft von Kontrolleuren und Denunzianten, die manchmal nichts, meistens Strafen, seltener Belohnung bewirken. „Das höchste Wissen an Biehls Privatschule war die Naturwissenschaft[…] Die mathematische Begabung galt als höchste Stufe der Intelligenz[…] Nicht, dass die übrigen Fächer nichts wert gewesen wären. Biehl selbst unterrichtete auch Geschichte und Mythologie. Doch die naturwissenschaftliche Erkenntnis war die höchste. Das hing damit zusammen, dass es nicht mit menschlicher Unsicherheit behaftet war.“(102) Auch als Erwachsener mit Frau und Kind inzwischen und ‚Laboratorium‘ für sein eigenes Konfrontationsexperiment, tut Peter sich noch schwer mit dem sprachlichen Ausdruck des ‚Kolossalen‘, das er hinter ihrem Plan zur Abschaffung des Dunkels zu Tage gefördert hat. „Es ist, als hätten diese Wissenschaftler und Philosophen und Menschen mit Macht und Wissen innerhalb der abendländischen Kultur etwas gemeinsam. Als habe keiner von ihnen das Dunkel ertragen können, als hätten sie nichts wissen wollen von Zweifel und Unsicherheit. Es nicht aushalten können, dass es ungelöste Widersprüche gab. Und da haben sie versucht, sie zu eliminieren.“(243)
Es ist das Programm des zivilisatorischen Expansionismus, das hier aufgerufen wird, in seiner ganzen Bandbreite von christlichen Missionszügen über lichtbringende Kolonialismen und modernisierende Imperialismen bis zur Genesung und Veredelung der Welt durch deren arisierende Erleuchtung; ein eliminatorischer Universalismus, ganz organisch verbunden mit Unterdrückung und Verelendung, Gewalt und Vernichtung. Nichts daran ist heimlich im Sinne einer klandestinen Verschwörung, sondern allenfalls im Sinne des unausgesprochenen Konsenses der vielen, allzu vielen Biehls als ehrenwerter Stützen der Gesellschaft, der als selbstverständliche Prämisse weißen Überlegenheitsdenkens auch gar nicht eigens erklärt werden muss, vielleicht nicht einmal bewusst wäre. Die dagegen krumm im Dunkeln kümmern, blicken durchaus durch: „Wenn Biehl jemanden geschlagen hatte, hart und berechnend und besinnungslos zugleich, dann kam eine ganz kurze Pause. Sie war zu kurz, um sie zu bemerken[…] dann war sie vorbei, und nur Spuren waren übrig. Eine vage Furcht, die man nicht verstand. War man aber krank, dann bemerkte man diesen Augenblick. Was wir hatten, war ja eben eine krankhaft erhöhte Empfindlichkeit für ganz kleine Zeiträume, und dann sah man die unendlich vielen und komplizierten Machtausübungen des Augenblicks, und man sah, wie allen, die anwesend waren, ein feines, ewiges Mal der Angst eingedrückt wurde und dass das etwas zu tun hatte mit dem Lernen der Zeit.“(261) Peter Høegs eigener Plan hinter seinem Roman ist die rehabilitierende Wiederherstellung des Dunkels, indem er den Geschlagenen und Erniedrigten, Vergewaltigten und Beschädigten Gehör verschafft. Es ist die Geschichte der ‚vielleicht Geeigneten‘, die hier zur Sprache kommt – und nicht die ihrer Peiniger vom lichten Plan. Dass die deutsche Titelgebung den originalen Fokus von ihnen weg wieder auf die Mächtigen lenkt, kommt einer erneuten -wie immer unbeabsichtigten- Misshandlung gleich.
Auch der Klappentext der dt. Ausgabe ist eine Zumutung: „geht unter die Haut – als Anklage eines unmenschlichen Schulsystems, als philosophische Betrachtung über die Zeit, als autobiographische Bewältigung und als ganz zarte Liebesgeschichte“. Wer verbricht bloß solche vollhohlen Nulltexte? Es mag nur ein Waschzettel sein, aber was sagt uns das über den Verlag und wie der seine Lesenden sieht?[3] Høeg hat nicht weniger als einen wuchtigen Befreiungsroman geschrieben, der all jenen ‚Borderliners'[4], die außerhalb und auf der darwinistischen Grenze, wo „man erklärtermaßen nur vielleicht geeignet ist zum Überleben“(41) entlangstrichen und dabei verstummt wurden, ihre Stimme wieder gibt in unausweichlicher Konfrontation mit dem, was sie kaputtmacht. Diese Stimme, das mag der Plan hinter Høegs Plan sein, ist laut und anklagend und Peters privater Deus ex machina ein provozierend unwahrscheinlicher Ausweg, so dass Fragen, Widersprüche und produktive Unklarheiten bleiben müssen wie offene Wunden. Nur eines wird schnell klar: Es ist der Klagelaut aller Verdammten dieser Erde, der sich hier Bahn bricht, der universelle SIGH OF THE OPPRESSED CREATURE, das Ächzen allen Südens dieser Welt – und möglicherweise weiß auch Høeg selber das noch gar nicht. Wenn ihn wer kennt oder trifft, vielleicht verrät’s ihm ja eine/r.
ANMERKUNGEN:
[1] https://de.search.yahoo.com/search?p=Peter+Høeg+Autor+Abschaffung+&fr=opensearch ergibt eine repräsentative Trefferliste zur Frage, ob das Internet mehr zu einer sog. Informationsgesellschaft beiträgt oder zur Vermüllung des Orbits mit nullwertigem Scheinwissen. Das Zitat, zuletzt abgerufen am 5.3.19, stammt von https://www.lovelybooks.de/autor/Peter-Høeg/Der-Plan-von-der-Abschaffung-des-Dunkels-144290440-w/
[2] Die Städte heißen längst Mumbai, Chennai und Kolkata.
[3] Hier ist die Hanser-Erstausgabe von 1995 gemeint, nach deren Seitenzählung auch zitiert wurde, die alte Rechtschreibung schweizerisch behutsam anpassend.
[4] ‚Borderliners‘ lautete der englische Titel, der -abgesehen von der läppischen Anspielung auf das medizinische Krankheitsbild im engen Sinn- wenigstens am Begriff der vielleicht Geeigneten orientiert bleibt. Die erhellende Schlüsselstelle im Folgenden ausführlich: „Biehl nahm den Darwinismus durch, das Überleben der am besten Geeigneten. ‚Er gilt noch immer‘, sagte er, ‚auch in der Gesellschaft, doch wird er dadurch gemildert, dass wir die Folgen abwenden.'[…] Für die, die innerhalb waren, also die meisten, für die war es schwer zu begreifen, für die war da vor allem die Freude darüber, dass sie innerhalb waren und die am besten Geeigneten. Bei denen, die außerhalb sind, füllt die Furcht und die Resignation beinahe alles aus, das weiß man ja. Verstehen kann man am besten, wenn man auf der Grenze ist. Es war ein Gesetz, das verstand man. Es erwählte den einen, den anderen verdammte es. Für die auf der Grenze aber bemühte man sich, die Folgen abzuwenden. Für sie gab es eine Chance. Biehls Privatschule war diese Chance. Dies kann man am besten verstehen, wenn man erklärtermaßen nur vielleicht geeignet ist zum Überleben.“
* Ebd., S. 249.


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