Gutenachtgeschichten zwischen Bergen und Meer, Dachsen und Wildschweinen, Siebenschläfern und Waldkäuzen / IIIb
Eine der wiederkehrendsten Fragen an uns (d.i. Giorgio und Silvia und zusammen sind wir Grüne Matrix, klingt erstmal komisch… ist aber so) lautet: „Und was macht ihr dann abends?“ Fernsehgucken jedenfalls nicht und groß „ausgehen“ auch eher weniger. Sonnenauf- und -untergang strukturiert unser Tagwerk und die „Reproduktion“ vom radikal-rustikalen Arbeitsalltag besteht v.a. im genussvollen Abendessen, Schreib- und Bürokram, eMails, Recherchen, Planungen, Ideenaustausch, Zeitungen, manchmal (saisonweise sehr gehäuft) auch Spielen oder beschauliche Spätprogramme mit Kräuterzupfen, Flaschen etikettieren – und ja: Wir lesen auch Bücher und besprechen sie sogar.
Für alle wertigen Texte und erst recht diese Buchbesprechungen gilt: kostenlos ist nicht umsonst und nur in ausgedruckter Form lassen sich alle Inhalte auch wirklich erfassen. Screenreading z.B. erlaubt nur einen beschränkten Begreifnisumfang bei virtuell stark reduziertem Tiefgang. Wer sich das für den vollen Horizont ggf. erforderliche Editieren im Textprogramm (Kopieren, Einfügen, evtl. Umformatieren) sparen will, kann gegen eine Aufwandsspende von 6,- € SÄMTLICHE bisherigen Gutenachtgeschichten als Word.DOC erhalten, ausgedruckt per Post für 12,- € –> Krämer, DE24 2004 1155 0163 2827 00, im Betreff „Literatur“ sowie je nach dem entweder eMail- oder Postadresse angeben!
Geschichten, die im Süden enden oder wo in Westasien der Orient beginnt: HISTORISCH FETT
An den spezifischen Schwierigkeiten, einen wirklich guten historischen Roman zu schreiben, scheitern die meisten; zumal im Deutschen, wo sie Figuren und Geschehnissen aus vielhundertjährigen Vergangenheiten mit den ewigen Binsenweisheiten ihrer je momentanen Phase zukleistern. Der in dieser Rubrik schon verhandelte ‚Fluch der Druidin‘ von B.Jaeckel z.B. hatte da merkliche Schwächen, die vom breiten Fundament einer akademischen Ausbildung in Ur- und Frühgeschichte und von dort mit hinreichend Witz und Schreibtalent allerdings noch ausgewetzt wurden. N.Ohlers ambitionierte ‚Gleichung des Lebens‘ hingegen versucht einen historischen Roman über den wendischen Widerstand gegen ein königlich-preußisches Trockenlegungsprogramm der Oderbruch-Sümpfe im 18.Jahrhundert bei eben derselben, vom Autor allerdings nicht erkannten Problemstellung – und so geht die ganze Gleichung nicht auf. Leider auch nicht von einem Historiker geschrieben, geht sogar grandios daneben, was Ohlers -sicher gutgemeint- da einfachen Flussfischern und adligen Aufgeklärten Überirdisches und Außerzeitliches so alles in den Mund legt. Mit traumwandlerischer Sicherheit über die Schreibklippen des Genres hinweggefegt jedoch ist Luther Blissett mit seinem ‚Q‘ – und das allein ist schonmal außerordentlich. Eine solche dickbuchige und detailgesättigte, dabei nie falschklingende oder langweilende Souveränität beim Romanisieren historischer Stoffe kennen wir sonst nur von italienischen Meistern wie Umberto Eco.
Luther Blissett schildert 40 Jahre pralle Aufstandsgeschichte, beginnend mitten im Bauernkrieg bei Thomas Müntzer und endend in Konstantinopel, wohin sich unser Held vorerst hat retten können, um seine bewegte Geschichte zu erzählen. Gleich zu Beginn wird seine all die Jahrzehnte rebellisch aktive Befreiungsperspektive gekreuzt vom Herrschaftsblick Q, dem Auge des Carafa, der ebenso aktiv in den Intrigen und Aufstandsbekämpfungen der Gegenreformation i.w.S. unterwegs ist – wie sich unvereinbar gegenläufige Klingen eben blutig so kreuzen, wo es um Alles geht auf ihrem geradezu manichäischem Marathon-Duell von Thüringen über Münster, die Niederlande, Basel und Oberitalien bis zum großen Showdown in Venedig. Und das tun sie im weiteren Verlauf unentwegt und doch ohne einander direkt wahrzunehmen. Den „Partisanen des Literaturbetriebs“, wie das italienische Autorenkollektiv nach diesem großen Wurf betitelt wurde, ist es damit auch in der Form des historischen Romans gelungen, „die offizielle Geschichte gegen den Strich zu bürsten“ und eine revolutionäre Perspektive so plastisch zu bebildern, dass er zum kulturellen Erbe der Menschheit erklärt würde, wenn die zuständige UNESCO eine Befreiungs- und keine Herrschaftsinstitution wäre.
Der „theologische Western“ (alle Zitate lt. Verlagsnachwort S.689f) über Reformation, Bauernkrieg, Wiedertäuferkommune, Schmugglerbanden, Ketzerverfolgung, Inquisition und Papstwahlkämpfe bildete sowas wie den rituellen Harakiri der Samurai, planmäßig zum Ende 1999 nach 5 Untergrundjahren Kommunikationsguerilla feierlich begangen von eben jenem Luther Blissett sich nennenden Kollektiv, das zuvor eine ganze Reihe anderer lustiger Aktionen gelandet hatte: peinlich ernstgenommene Pressekampagnen über die erfundene Kinderporno-Verhaftung eines prominenten Priesters oder über von einem aus einer Tierversuchsanstalt ausgebrochenen Affen gemalte Ölbilder auf der Biennale etwa, Fake-News über satanische Messen und Kirchendiebstähle oder auch ein komplett gefälschtes Buch unter dem Namen des bekannten Kultautors Hakim Bey, das mit heiligem Ernst überall rezensiert wurde, obwohl es offenkundig nichts als Lorianismus enthielt. Auch „Luther Blissett“ selbst wurde lange für einen einzelnen geheimnisvollen Autor gehalten, sogar nachdem der ahnungslose Namensgeber (ein eher unscheinbar gebliebener britisch-karibischer Fußballprofi, der sehr kurz auch für den AC Mailand spielte) schon geoutet war. Sich nach 17 Jahren seiner romanförmigen Historiographie aus dem leuchtenden Dreieck schriftstellerischen Könnens, geschichtswissenschaftlicher Fundiertheit und der vollen Leidenschaft aller aufständischen Menschenherzen für eine deutsche Ausgabe so engagiert zu haben, nicht zuletzt durch ein gutes Lektorat und die notwendig kongeniale Übersetzung, ist ein bleibendes Verdienst der „Assoziation A“ um Gegenkultur und -gedächtnis gerade in grausam zementenen Zeiten. Und auf ‚Q‘ folgte Wu Ming – abermals bürstet ein Autorenkollektiv die Offizialgeschichte mit saftigen und stimmigen Romanen befreiungsperspektivisch inspirierend gegen den Strich der Herrschaft, auf dem sich die meisten Edelfedern leider längst freiwillig feste fakend eingerichtet haben. Geht doch.
Geschichten, die im Süden enden oder wo in Westasien der Orient beginnt: TRENDET WIE SAU
Q, der 700-Seiten-Schmöker, der nur zufällig so klingt wie der hohle Agentenspielzeugbauer seiner Majestät und stattdessen mit aller kreativen Macht der positiven Phantasie ein plausibilitäts- und menschlichkeitsgetränktes Geschichts- und Aufstandsepos im großen Stil ausbreitet, umfasst und öffnet einen geradezu weltweiten historischen Horizont. ‚Fake Metal Jacket‘ von Sven Recker konzentriert sich dagegen auf einen engen Ausschnitt Gegenwart, nämlich den aktuellen Syrienkrieg und wie darüber berichtet wird, den er auf 127 knappen Seiten im gehetzt-gehechelten Duktus eines inzwischen dominant gewordenen Typs Rasender Reporter 3.0 beleuchtet. Im Zentrum des Geschehens steht der eher eklige Peter Larsen, ein hochgelobter Krisenherdberichter der Marke Relotius – und dass Reckers Buch sowas schon VOR dessen öffentlichem Auffliegen detailliert geschildert hat, wirft ein Schlaglicht auf die weite Verbreitetheit von Fakejournalismus (wenn der Autor nicht sogar Relotius selbst als inspirierendes Vorbild vor Augen hatte und so vielleicht zu dessen Enttarnung und Absturz direkt beitrug). Recker, der selbst als Journalist arbeitete und seit 2009 in Ländern wie Libyen, Irak, Sri Lanka oder Ruanda Journalismusschulungen vor Ort durchführt, wird solche Typen jedenfalls kennen, die ihre einschlagenden Stories mit lokalen Helfern für den meistbietenden Mainstreamkonsum nicht ohne Raffinesse fälschen oder gleich ganz erfinden. So gelingt ihm bestens eine dichte Beschreibung, wie leicht die Herstellung nachgefragter News mit den schnellen und flachen Neuen Medien technisch zu bewerkstelligen ist und abgenommen wird – und wie das die Beteiligten selbst rasend schnell verhetzt und verflacht.
Larsen selbst macht im Wesentlichen gar keinen Hehl aus seiner rapide voranschreitenden Verfallsgeschichte im Spannungsfeld persönlicher Stressschäden wie Trinkerei, Einsamkeit oder Enttarnungsängsten, immer neuer Anforderungen von und Verstrickungen in Fake-Produktionen sowie zunehmender Flüchtigkeitsfehler und Fehleinschätzungen auch im Privaten. Die allgegenwärtige westliche Berichterstattung zu als humanistische Interventionen verbrämten imperialistischen Kriegszügen gegen immer neu an die Wand gemalte Schurkenstaaten gerät mit diesem rastlosen Relotius zurecht ins volle Zwielicht und wird dabei sehr plastisch als eingebettete Fabrikation von alternative facts kenntlich, organisch embedded in die propagandistische Legitimationsmaschinerie für den Syrienkrieg. Dennoch handelt es sich gar nicht so sehr um einen waschzettelgemäß schwarzen Roman „über die Wahrheit im Zeitalter ihrer technischen Produzierbarkeit“; sondern von einem eben dieser Produzenten: „Ich bin Peter Larsen, ein kleiner Lügner, sonst nix. Ich bin keiner von denen, die was zu sagen haben und deswegen schreiben. Ich mach mich wichtig, das ist es auch schon. Die Nähe zu den Großen machte mich größer. Die Nähe zum Krieg machte mich wagemutig, die Nähe zu den Schönen machte mich sexy, die Nähe zum Geld suggerierte Reichtum, zähl die Schwächen auf und dann weißt du: Ich, Peter Larsen, bin schwach. Erst das Fälschen machte mich stark.“(124f) Vom glorreichen Anfang bis zum schimpflichen Ende dreht sich alles um diese falsch gemünzte Welt des skrupellosen Geschichtenlieferanten – auch dann noch, als sein grassierender Realitätsverlust bei gleichzeitig lüstern-verzweifelter Verliebtheit in die bildtelefonische Schönheit Leila, eine Kusine seines Fälscherkomplizen Ahmad mit konkreten Fluchtambitionen aus Syrien, ihn im selbstgesponnenen Lügennetz zu Fall bringt; und er sich plötzlich im reichlich unsanft aufgenötigten Dienst der syrischen Gegenpropaganda wiederfindet: „Ist das meine Quittung? Hab‘ ich das hier am Ende nicht sogar richtig verdient?“(91) fragt er sich. Und Omar mit dem Zuckerbrot sagt „Guck mal“ und es täte ihm ja leid wegen Leila: „Aber was soll ich sagen, mein Freund, es ist nun mal so. Wir haben dich beschissen, aber sieh es mal so, du hast uns beschissen, jetzt sind wir quitt.“(101f)
Die rasante Wendung zum dritten Teil ab S.77 hat es in sich. „Nichts, was Larsen bislang erlebt hat, ist vergleichbar mit dem, was jetzt kommt. Wer sind die Guten? Wer sind die Bösen? Eine Nummer kleiner geht’s nicht“, so Recker in der allen 4 Teilen jeweils vorangestellten Einleitung. Es tauchen nun die wirklich kritischen Fragen auf, nach dem in Omars Worten fälschungsbasierten „Narrativ westlicher Medien“(102), nach der Rolle des Schreibtischtäters als Kombattant, nach Verantwortungen und Konsequenzen – und die weder überzeugten noch überzeugenden Rechtfertigungsversuche des aufgeflogenen Schwindlers. Recker überlässt hier die Entscheidung seinen Lesenden, aber nur scheinbar. Tatsächlich konstruiert er die Erzählung so, dass sie seinem Helden den Nimbus gönnt, wenigstens für die richtige Seite gefälscht zu haben. Larsen darf am Ende als einsamer Lump dastehen, der zwar irgendwie alle und alles Wertige verraten hat, aber doch noch einen USB-Stick mit seinen nun für die Regierung gefaketen Streichen an seinen ehemaligen Spießgesellen Ahmad schmuggeln kann. Der geht zum guten Schluss noch schön mit zwei eingesockten Versöhnungsflaschen Bier an den Strand von Tripolis: „Eine für Larsen und eine für ihn.“(127) Da hat zum ranzigen Ende nun Recker selbst im Irrgarten medialer Manipulatorik den Überblick verloren oder auch geopfert auf dem Altar westlicher Marktkompatibilität wie einer, der doch lieber an die ungefakete Heiligkeit der Weißhelme im Syrienkrieg glauben will. Diese Angst vor der eigenen Courage auf den letzten Metern trivialisiert Reckers Roman gehörig wie alles, was brennende Fragen erst aufwirft, um sie dann doch wieder im heißen Sand der Wüste veröden zu lassen. Faking schade um den Ansatz.
Geschichten, die im Süden enden oder wo in Westasien der Orient beginnt: GEGEN DIE WAND
„Ein gnadenloser Pageturner“ – mit diesem Bonmot, das inzwischen schon eher zu einer Phrase der Marke „kongeniale Übersetzung“ verkommen ist, sind bereits inflationär viele Bücher und Büchlein bedacht worden, etwa S.Browns ‚Böses Herz‘: ein bürgermiefiges Gestocksel, bei dem vor lauter Schlechtgeschriebenheit die Seiten allerdings gar nicht schnell genug umgeblättert werden können in der Hoffnung, doch noch was nicht so gnadenlos Langweiliges zu lesen zu kriegen. Nach dem in dieser Rubrik schon verhandelten Elsberg nun also Brown: Ist „Blanvilet“ ein Verlag für aufgepimptes Spießertum, das jetzt mal selber schreiben und gelesen werden will? Fatma Aydemirs ‚Ellbogen‘ ist von alledem das Gegenteil und so tatsächlich ein gnadenloser Pageturner. Spannend von A bis O wird hier die Geschichte der Berliner Göre Hazal Akgündüz erzählt, von kurz vor bis kurz nach ihrem 18.Geburtstag. Und bereits auif S.21 haut sie so ultimative Weisheiten heraus wie „Leute die Abi machen, labern alle nur Scheiße und haben fettige Haare“, dass es eine Wucht ist.
Aydemir kennt ihre widerborstig verlorene Klientel umfassend und in allen Differenzierungen und Verästelungen, dazu kann sie schreiben und gestalten. So wird die Ich-Erzählung des bösen, des kleinen, armen Mädchens zum saftigen Bericht einer unerhörten Begebenheit (mit nebenbei reichlich Aufklärpotenzial für bedürftige Angehörige deutscher Leitkultur, sofern die mal lernen wollen, was von Subalternen zu lernen) zwischen den Stationen ertappte Ladendiebin in Berlin und knalliges Ende in Istanbul. ‚Ellbogen‘ rockt wie Akins „Gegen die Wand“, Lieblingsfilm der Heldin. Es ist ein mitreißender Debütroman von außerordentlicher Rasanz und Tiefe, der mit der scharfen Nähe einer Handkamera den Blick auf einen ganzen Kontinent aufreißt, bewohnt vom abgehängten, abgehakten und vergessenen Drittel einer fadenscheinigen Wohlstandsgesellschaft, deren desinteressierter und ausgrenzender Sneer dort im Dunklen umso feiner verstanden wird.
Mit ihren Kindern haben’s die Deutschen auch im Licht noch nie so besonders gehabt – mit Blick auf die Untätigkeit gegen den für nichts als den eigenen Fettlebenutzen herbeigeführten Klimawandel, der jenen die Zukunft verhagelt, kann man den „Fridays for Future“-Schulschwänzenden nur viel kompromisslos halsstarrige Wut auf die Verursacher/innen der kommenden Katastrophe wünschen, um wenigstens den Erfolg einer relativen und minimalen Schadensbegrenzung durchzusetzen, was bereits ziemlich viel und nachhaltig Revolutionäres erfordern würde; Ein bisschen vom unversöhnlich vorwärts peitschenden Zorn der aussichtslos abgeschenkten, weniger privilegierten Jugendlichen, die wie ihre gymnasialen Altersgenoss/innen einen gedeihlichen Platz in einer unwirtlich gemachten Welt suchen, nur anders. Same same, but different: „Mein Name ist Hazal Akgündüz, mein Thema lautet: Überleben.“ Time to move.
BLISSETT, Q, Berlin u. Hamburg 2016 – nochmals kaufen und passend verschenken.
AYDEMIR, Ellbogen, München 2017 – niemals verkaufen.
HØEG, Der Plan zur Abschaffung des Dunkels, München 1995 – erstmal behalten.
RECKER, Fake Metal Jacket, Hamburg 2018 – gleich weiterverkaufen.
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