Rosolio, Nocino und die Freiheit der Liköre

11.3.2021 silliguri Newsletter & Technix

Ob mit oder ohne Corona: Italien ist und bleibt eine oder präziser DIE Wiege der Likörkunst.
„Bei uns reift bspw. gerade der Nocino“, war im letzten August-Newsletter #40 zu lesen, „ein klassisch aus um den Johannistag geernteten grünen Walnüssen gewonnener Nusslikör, wie er seit der breiteren Verfügbarkeit von Alkohol und Zucker überall auf dem Stiefel in lokal spezifischen Rezepturen auch von einfacheren Haushalten selbst hergestellt wurde, insbesondere sofern sie noch auf tradiertes Wissen aus der Praxis alter weiser Frauen zurückgreifen konnten. Viel zu sehr ist die Likörgeschichtsschreibung geprägt vom Narrativ der Herrschenden, Siegerhistoriografie. Nicht nur in Klöstern wurde mit Acquavite, dem durch Destillation gewonnenem Hochprozentigen, experimentiert – und wer genau im 10.Jahrhundert überhaupt und als erster die Destillation entdeckt oder erfunden haben soll, bleibt eben daher und zurecht im Ungewissen multipolarer Geschichte. Dass neben den Klerikern weltlichere Ärzte, Alchemisten und kundige Landfrauen trotz aller inquisitionellen Verfolgungen nicht weniger zum Erschließen zunächst heilkundlicher, später trinkfreudiger Nutzbarkeiten des Acquavite beitrugen, darf als gesetzt gelten, auch und gerade gegen den Strich einer Elite-Geschichte gehend, die vor lauter hohen Edelleuten den Adel im edlen Stöffchen selbst nicht mehr sieht. Am Beispiel des NOCINO, dessen ‚Erfindung‘ allen Ernstes die Kapuziner des 1535 gegründeten Klosters zu Brigorio in der ital. Schweiz für sich reklamieren, zeigt sich die dringende Notwendigkeit einer lauten
‚Reclaim the liqueurs!‘-Kampagne zur Befreiung unserer geistigen Getränke
aus den Klauen des feudalen, klerikalen und –nicht erst seit der EU-Spirituosen-Normierung 2009– auch großkapitalistischen Adels. Wo die in antiken römischen Quellen Pikten genannten Stämme Nordbritanniens am Johannistag feierlich aus einer Gemeinschaftsschale einen ‚dunklen Walnusstrank‘ schlürften, der offenkundig von im Vorjahr geernteten und angesetzten grünen Walnüssen abgezogen war; wo im mittelalterlichen Italien die Praxis verbreitet war, an S.Giovanni die heilkräftige Götterfrucht aus den Wipfeln zu pflücken (zwingend durch eine ‚erfahrene Frau‘, barfüßig und bloßhändig, um ja nix negativ zu beeinflussen); und wo außer genehmigten Mönchen, Apothekern und Essigmachern auch weniger genehme Alchemisten und Tüftler, sog. Hexen und findige Bauernhaushalte eher illegal über ausreichend Kenntnisse, Fertigkeiten und Gerätschaften zum Elixieren verfügten – wie wahrscheinlich ist es da, dass ein erst in früher Neuzeit gegründetes Kapuzinerkloster den Nocino ‚entwickelt‘ haben soll?
Spätestens seit Michele Savonarola (Arzt in Padua und Großvater des berühmteren Girolamo), der im früheren 15.Jhdt. mit einem Acquavite aus Honig und Rosenöl den ersten ROSOLIO kreiert haben mag, ist belegtermaßen mit Süßungsmitteln breit und nicht erfolglos daran laboriert worden, die bittere Medizin der vielfältigen Kräutertränke genießbarer zu machen. Der Rosolio –obgleich selbst noch voll an medizinische Zwecke gebunden– wurde so zum Wegweiser moderner Likörherstellung, die die edlen Stöffchen vom ärztlichen Zwangsdienst zum reinen Genuss der Kunst um der Kunst willen befreite. Mit der Verfügbarkeit karibischen Rohrzuckers aus den Kolonien (erst um 1800 gab es den billigeren Zucker aus optimierter Rübenwirtschaft) war der in Italien schon im frühen 14.Jhdt. versuchte Weg geschmacklicher Genießbarmachung des Bitteren geradezu mehrdimensional geöffnet. Bis heute steht ‚Rosolio‘ als Gattungsbezeichnung für den i.Ggs. zum ‚Amaro‘ (für bitteren Kräuterlikör) lieblichen Höherprozentigen im Allgemeinen, den die einfachen Landhaushalte stets selbstgemacht und entsprechend variierend für die vielen besonderen Anlässe bereithielten, die das harte Arbeitsleben selten genug versüßen; lange bevor geschäftstüchtige Brennereien diese Kostbarkeiten zu noblen Gesöffen der Haute Volée bei Hofe aufstandardisiert hatten und später den armen Schluckern molochender Städte nur noch Massen-Plörre ließen.
In diesem Namen der Rose muss nichtmal unbedingt Rosenöl oder überhaupt was von Rose enthalten sein, unser lokales Rosolio-Duett bspw. bilden der ‚Di Limone‘ und der ‚Limone con Prugnolo‘ je aus Zitronenschalen-Essenz mit echter Vanille. Unser tatsächlicher Rosenlikör heißt hingegen ‚Rosinante‘ und nur in Österreich scheint Rosolio zuweilen noch exklusiv für echten Rosenlikör zu stehen, wie ihn schon die Husaren Habsburgs in den südlicheren Reichsteilen liebten und als leckerleichten Rosenhugo (sprich ‚ügo‘) genossen. Dazu wird ein echter Rosenlikör wie eben unser ‚Rosinante‘ mit Prosecco oder Holundersekt plus etwas Limette und Minze zu einem feinen sommerfrischen Longdrink aufgegossen. In der Schweiz wiederum firmiert der nach mündlich innerhalb der weiblichen Linie weitergegebenen Familienrezepten meist aus dunklen Früchten (Kirsche, Holunder, Cassis) hergestellte Hauslikör als ‚Rosoli‘ oder (in Graubünden) ‚Röteli‘. Nach Kurt Lussi in seinem Buch ‚Liebestrünke. Mythen, Riten und Rezepte‘ gibt es so viele Rosoli-Rezepturen wie Bauernhaushalte, die ihn herstellen. Prinzipiell gilt diese wilde produktive Vielfalt auch für Limoncino und Nocino – nicht monopolisierbar, nicht standardisierbar. Es gilt aber ebenso für unsere nichtalkoholischen Echtrosenkreationen, nämlich den Rosensirup, unsere Kräuterteemischung mit Rosenblütenblättern, das edle Rosenbadesalz, unser Rosenmassageöl. Wie die Freiheit kommt auch die natürliche Schönheit – von Unten, vom Wilden und lässt sich nicht supermarktgenehm bändigen oder normieren.“ Eine
‚Reclaim the liqueurs!‘-Kampagne zur Befreiung unserer geistigen Getränke
bedeutet eben auch, den Gestopften und Veradelten dieser Welt Definitions-, Verfügungs- und Ausbeutungsmacht über unsere ureigenen und altermondialen Naturprodukte offensiv streitig zu machen. Wer bspw. einen originalen unangepassten Rosolio will, probiert zu den o.g. aus Zitronenschalen-Essenz jetzt noch den mit Bergamottenschalen hergestellten und schlicht sensationell gewordenen ‚Di Bergamotta‘, der jeden neumodisch aufgetakelten Barmixerbuhei ohne Worte aussticht. Ähnlich gilt das für unseren gerade in der Mache befindlichen Perfettamore, die ligurisch-naturale Variante des klassischen „Parfait d’amour“ aus dem benachbarten Frankreich. Handgelesene Veilchenblüten werden mit Zitrone, Mandarine und Koriander nebst anderen raffinierten Gewürzen angesetzt zu einem unwiderstehlichen Likör aus Veilchenblüten – und bei uns garantiert ohne alle Auffärbungstricks, nur weil Veilchenlikör aufgrund seiner Vermarktungsgeschichte so oft in rosa oder himmelblau erwartet wird. Unser Perfettamore dagegen ist naturfarben wie die ungeschminkte Schönheit des Landes und hat umso mehr den natürlich-leichten Abgang von Veilchenaroma. Mit Sekt oder Holundersekt lässt er sich analog zum Rosenlikör auch gut zu einem prickelnden Longdrink verlängern. Wer sich sinnlich selbst mal vom unvermassenwarbaren Spirit authentischer Kleinbauernliköre überzeugen will, darf uns gern gegen Kostenbeitrag auf Vereinsspenden- oder Agrök-Beitragsbasis mal besuchen. Der erste Schritt ist da immer: Unseren Quartalsnewsletter –>hier bestellen, durch Klick auf KONTAKT und eMail mit „Her mit dem Newsletter!“ im Betreff, ganz einfach.


Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Präsentiert von http://wordpress.org/ and http://www.hqpremiumthemes.com/