Gutenachtgeschichten zwischen Bergen und Meer, Dachsen und Wildschweinen, Siebenschläfern und Waldkäuzen / IVa
Eine der wiederkehrendsten Fragen an uns (d.i. Giorgio und Silvia und zusammen sind wir Grüne Matrix, klingt erstmal komisch… ist aber so) lautet: „Und was macht ihr dann abends?“ Fernsehgucken jedenfalls nicht und groß „ausgehen“ auch eher weniger. Sonnenauf- und -untergang strukturieren unser Tagwerk und die „Reproduktion“ vom radikal-rustikalen Arbeitsalltag besteht v.a. im genussvollen Abendessen, Schreib- und Bürokram, eMails, Recherchen, Planungen, Ideenaustausch, Zeitungen, manchmal (saisonweise sehr gehäuft) auch Spielen oder beschauliche Spätprogramme mit Kräuterzupfen, Oliven entkernen, Flaschen etikettieren – und ja: Wir lesen auch Bücher und besprechen sie sogar.
Für alle wertigen Texte und erst recht diese Buchbesprechungen gilt: kostenlos ist nicht umsonst und nur in ausgedruckter Form lassen sich alle Inhalte auch wirklich erfassen. Screenreading z.B. erlaubt nur einen beschränkten Begreifnisumfang bei virtuell stark reduziertem Tiefgang. Wer sich das für den vollen Horizont ggf. erforderliche Editieren im Textprogramm (Kopieren, Einfügen, evtl. Umformatieren) sparen will, kann gegen eine Aufwandsspende von 5,- € SÄMTLICHE bisherigen Gutenachtgeschichten als Word.DOC erhalten, ausgedruckt per Post für 10,- € auf Krämer, DE64 5001 0517 5430 1082 22, im Betreff „LiLiB / Literatur LiguriBlog“ sowie je nach dem entweder eMail- oder Postadresse angeben!
Gutes Lesen ist Reisen im Kopf und erweitert jeden Horizont. Unermessliche Weiten, Tiefen und Höhen öffnen sich und spannend ganze Kontinente, sehr nahe und allerfernste… Es gibt sogar wissenschaftliche Bücher, die sich wie Entdeckungsromane lesen und mit zwo solchenen startet unser diesmaliges Literaturquartett auch. Allen Vieren gemeinsam ist die Thematisierung von „Dark Continents“[0], was hier natürlich in kritischer Distanz zitiert und gegen den Begriffsstrich gebürstet verstanden wird. Das tut nun auch die Autorin von
DARK CONTINENTS und das UnBehagen in der weißen Kultur.
Wie die Figur des Orientaldespoten –wenngleich (geschichts)wissenschaftlich längst erledigt– munter weiter durch die gelehrten und allgemeinen Erzählungen moderner Welt spukt[1], so läuft das auch beim (topisch) Unbewussten und Freuds Psychoanalyse mit all ihren längst falsifizierten Essentials von der Triebverzichtslehre bis zur Subjekt- (und Kultur-)genese. Martina TIßBERGER legt anhand ihrer spezifischen Fragestellung, ob gerade jener hartnäckig grassierende (subkutane, unbelehrbar bleibende, unterbewusst als „Wissen“ eingefleischte Alltags-) Rassismus psychoanalytisch begriffen werden kann, diese und andere grundlegende Konstruktionsfehler bei solchen Ansätzen wie jenen Kristevas, Hooks und Seshadi-Crooks‘ (und darüber bei Freud selbst) Schicht um Schicht frei. Aus einer merklich kompetenzgesättigten Position, dabei stets sorgfältig, gründlich und transparent, zerlegt sie die Genannten durch gnadenlose Analyse so in ihre jeweiligen Einzelteile, dass deren abjekte Theorien selbst als psychoanalytisch zu sezierende Leerstellen auf der Couch landen.
Heraus kommt (mit Hilfe von Gayle Rubin, Judith Butler, psychologischer Säuglingsforschung, Daniel Boyarin und Celia Brickman) die rassistisch codierte Subjekt- und Kulturgenese des weißen Kolonialherrn als Universalie ontologisiert und als Bemächtigungsgeschichte ins topisch Unbewusste abjektiert, verworfen, verdrängt und vergessen. Die Psychoanalyse selbst kann diese Leerstelle nicht fassen, weil sie primär konstitutiv für sie ist. Umso weniger kann sie mit Derek Hooks naturgegeben gesetztem „prädiskursivem Rassismus“ oder Kalpana Seshadi-Crooks‘ fetischistisch verschobener „Whiteness als Phallusschwindel“ Rassismuserklärungen herleiten, ohne zwangsläufig selbst wieder im eigenen topisch Unbewussten zu landen – also reaktionär zu verhärten. Das dynamisch Unbewusste und seine -politischen, sozialen, emanzipatorischen- Potenziale werden dagegen verschlossen; das Unbehagen in der weißen Kultur bleibt so eine kleine Nervosität des Weißseins beim Sprechen des „verlorenen Referenten“ und ein kurz mal klammes Gewissen vielleicht, jedenfalls ein Dumpingpreis für die unerhört gewaltsame und profitable Bemächtigungsgeschichte weißer Herrschaft über alle Welt.
Ein Vorher im Dienst des Nachher
Julia Kristevas Abjektionstheorie wird in diesem Kontext als Paradebeispiel für die „Darstellung der Ontologisierung von Machtverhältnissen durch die Behauptung von Ausschluss als ontogenetischer Notwendigkeit“(41) gegen den Strich gelesen und tatsächlich hat die Gelobte nie mehr als freud’sche Postulate in „the gift of their void“ (dem ihr von Patient/innen geschenkten Beschweigen ihrer unbewussten Leerstellen) hineingeschrieben – eine Bemächtigungsgeschichte wieder eigener Art. Dass sie den Topos des mütterlichen statt väterlichen Körpers als Ursprungsmythos setzt, qualifiziert sie nicht als Feministin: sie macht den ganzen sexistisch und rassistisch codierten Subjekt- und Kulturgenetismus mit und landet logischerweise im politisch Affirmativen ihrer ‚Nation ohne Nationalismus‘ (das ist jetzt nicht Tißberger), hinter deren angeblich hohem Abstraktionsniveau dann doch nur eine öde Meinung/Idee steht, die ohne jeden Beweisversuch oder Realitäts-Check solipsistisch durchpostuliert wird[2]. Hook (mit Kristevas Abjektionstheorie) und Seshadi-Crooks (mit einem lacan-/levi-strauß’schen Phallusschwindel) nun „führen uns mit ihren psychoanalytischen Erklärungsversuchen an genau die Stelle in der Psychoanalyse, wo gesellschaftliche Machtverhältnisse über den Weg der Psyche und des Körpers ontologosiert werden.“(88) Eine/r spielt dabei immer Gott und verkündigt den sedimentierten Ursprungsmythos –ob mütterlich umformatiert, symbolsprachlich weiterverschoben oder als Führer der Urhorde im Original– im Namen des Vaters, Ödipus, Amen. Auch den beiden Followers gelingt kein Ausbruch aus der Hermetik des kunstvoll konstruierten psychoanalytischen Labyrinths – sie reproduzieren den grundlegenden Naturalisierungsmechanismus nur weiter und zementieren im topisch Unabänderlichen an ihren jeweiligen Ansatzstellen, was ins dynamisch Unbewusste und von dort aus menschlich Gestaltbare gehört. An die Stelle der reaktionären Topik des ‚Realen‘ (i.S. letzter Wahrheiten) jedoch „muss wieder die Realität treten. Statt Rassismus im Rekurs auf eine Urhorde zu erklären oder mit Prädiskursivem, das gleichermaßen mit der Urhorde assoziiert ist, muss herausgearbeitet werden, wodurch solche Assoziationen von Weiblichkeit und Rasse als Code für Primitivität mit Urhorde und Prädiskursivem aufrechterhalten werden.“(90)
Und genau dafür sind jene „theoretikomorphen Mythologien“[3] –wenngleich ohne realistischen Erklärungswert für den anvisierten Rassismus oder frühkindliche Subjekt- bzw. menschliche Kulturgenese oder sonst etwas Empirisches außerhalb weißer Herrschaftsperspektive– immerhin vorzüglich als Material geeignet. Bspw. zu Kristeva:
„Das eine ist die Realität, das andere ist das ‚Reale‘ der Psychoanalyse.
Als Beschreibung der Kultur der Moderne ist Kristevas Abjektionstheorie –das Prinzip des Ausschlusses– zutreffend, nur beschreibt sie keine ’natürliche‘, ‚prädiskursive‘ Ontogenese. […Sie] reproduziert die Einschreibung kultureller Verhältnisse in die Ontogenese durch die Psychoanalyse. Kristeva bindet kontingente, empirische Elemente der Realität an das Reale der Psychoanalyse. Das Reale der Psychoanalyse ist so anschlussfähig für Rassismus, Auschwitz und Gulag, weil im Realen Bemächtigungsgeschichten begraben werden. Die realen Verhältnisse präfigurieren Kristevas Abjekt und Abjektion. Indem Kristeva die Realität zum Realen umschreibt, werden die Verhältnisse entpolitisiert, enthistorisiert, biologisiert und universalisiert. […Sie] entwickelt ihre Abjektionstheorie aus der ‚void‘ ihrer Patient_innen, der Leerstelle ihres Schweigens. Einen Rekurs zum realen Säugling strengt sie nicht an. Sie verweist weder auf konkrete Beobachtungen noch auf empirische Forschung[…], obgleich ihre gesamte Argumentation von den Ausscheidungsprozessen beim Säugling ausgeht, die ihr als erste Individuation gelten. Tatsächlich wissen wir nicht, was Babys empfinden im Prozess der Ausscheidung[…] Vielmehr beobachten wir, dass sie interessiert mit diesen Substanzen spielen. Es sind die Erwachsenen, die ihren Ekel übertragen[…] Durch Übertragung vermitteln sie den Kindern auch alle anderen ‚abjekten‘ Elemente ihres jeweiligen ‚kulturellen Symbolischen‘.“(170) Das musste zwischendurch einfach mal in ausführlicher Zitation klargestellt werden.
Tißberger haut bei alledem ihre Untersuchungsgegenstände also nicht schnöde polemisch in die Pfanne, sondern verfolgt sachlich, nachvollziehbar und Schritt für Schritt ihren vorgelegten Arbeitsplan; und das mit einem Scharfsinn, der auch überraschende Details und Erkenntnisse zu Tage fördert. So lernen wir, dass und sogar warum Sigmund Freud sowohl eine emanzipatorische Sexismus- als auch Rassismustheorie zum Greifen nahe vor der Nase hatte und sie doch knapp aber gründlich verfehlte – was eigentlich schade ist, weil: Dieses Reale „anstelle der Realität entledigt die Psychoanalyse nicht nur ihres politischen Potenzials, sondern auch wichtiger Teile ihres therapeutischen Potenzials.“(338) Oder: Wer sich schon immer fragte, warum ihn oder sie aus der Reihe ‚verstörende Filmkunstwerke‘ solche von Haneke bewegend inspirieren, jene von Lynch hingegen abgestoßen kalt lassen – wird Antworten finden. Freilich, der 375-Seiten-Wälzer bleibt ein wissenschaftlicher Fachvortrag; doch als solcher ist er für Fortgeschrittene bestens lesbar, gut strukturiert, sauber durchgeführt, sehr lehrreich und ein direkt spannendes Vergnügen. Gelegentliche Redundanzen werden bei wiederholt auftretenden Sachverhalten, wenn diese mal in neuem Aspekt oder anderem Kontext auftauchen, gern in Kauf genommen (allemal besser als immer nichtssagendere Abkürzungen). Ein paar –hier lässliche– Einwände gibt es schon auch, aber es soll ja nicht zuviel verraten werden. Alles in Allem ein hervorragend gelungenes Stück Kritischer Weißseinsforschung, das bei aller schweren Theoretik des Themas nie die konzeptionelle, praktische und empirische Bodenhaftung verliert.
Anmerkungen:
[0] Typischer Freud-Klassiker: „Ist doch auch das Geschlechtsleben des erwachsenen Weibes ein Dark Continent für die Psychologie“ (erstmals 1926 in „Die Frage der Laienanalyse“). Dazu bereits Tißberger, Dark Continents…, Münster 2013: „Mit dem dunklen Kontinent sind koloniale Phantasiereiche gemeint, welche sich die Europäer gerade einverleiben, als Freud die Psychoanalyse entwickelt – ein Prozess der Bemächtigung, der von ihnen sexuell allegorisiert wird. Mit der Konfluenz von Rasse und Gender als Dark Continent werden die Zusammenhänge von Kolonialismus, Rassismus und Sexismus als Teile des kulturell Symbolischen in die Subjektgenese der Psychoanalyse eingearbeitet.“(277)
[1] Vgl. dazu: Jürgen Krämer, ORIENTALISMUS MACHT GESCHICHTE: Zum Beispiel die Entstehung des Orientaldespoten im Deutschland der Spätaufklärung aus dem Geiste europäischer Expansion in Indien IN: Iman Attia, Orient- und Islambilder, Münster 2007, S.111-136).
[2] Gemeint ist das fast 20 Jahre nach ihrem „Powers of Horror. An Essay on Abjection“ vorgelegte Buch: Julia Kristeva, Nations without Nationalism, New York 1993; siehe dazu und auch zur deutschen Rezeption ihr erschreckend seichtes Interview in DIE WELT vom 24.3.2011;
[3] Nach Martin Dornes’ Begriff vom ‚theoretikomorphen Mythos’ aus „Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen“, Frankfurt/M. 1993;
DARK CONTINENTS und die „Kritik der schwarzen Vernunft“
Ein gutes wissenschaftliches Buch ist eines, in dessen Einleitung sich klar dargelegt findet, was wie und auf welchen Grundlagen im Folgenden untersucht und aufgewiesen werden soll – insbsd. auch These(n), Prämissen und eigenes Erkenntnisinteresse; und in dessen Conclusio eine griffige Zusammenfassung des Erarbeiteten samt konsistenter Schlussfolgerungen die Bedeutung des Bewiesenen über sich hinaus in größerem Kontext interpretiert. Der dicke Hauptteil dazwischen? Details; die eigentliche Beweisführung, der Ort zur Überprüfung der Plausibilität des Gesagten – und für’s erste Verständnis im Prinzip verzichtbar; wenn es nicht wie bei Tißberger solche spannend und scharfsinnig ausgeführten Einzelheiten enthielte, deren Überlesen ein intellektueller Offenbarungseid oder schon pathologisch asketischer Lustverzicht wäre. Nicht so einfach macht es uns Achille MBEMBE mit seiner Kritik der schwarzen Vernunft, denn wer sich hier bloß auf Einleitung und Epilog verlässt (und das scheint auch der Grund vieler Jubelarien der deutschen Rezeption à la „der neue Star am postkolonialen Himmel“ oder ein „Feuerwerk von Ideen“ [4] zu sein), ist schnell einem leichtgängigen Digest folgender Art aufgesessen: Nicht Afrika wird gerade an die Welt angepasst, sondern es ist die Welt, die derzeit afrikanisiert wird: Bislang in bedeutenden Teilen der Welt unbekannte imperiale Praktiken, die sich am „Vorbild der Sklavenlogiken des Fangens und Erbeutens, ebenso wie an den kolonialen Logiken der Besetzung und Ausbeutung, also der Bürgerkriege oder Raubzüge früherer Zeitalter“ orientieren, werden global; Differenzierungen, Klassifizierungen und Hierarchisierungen, die auf Ausschluss, Vertreibung oder sogar Vernichtung zielen, bilden eine innere Kolonisierung in den Erstweltländern ab, die die „Tragödie des Subjekts“ vom Ausgebeutetwerden zum nichtmal mehr dazu benötigten Überflüssigen verschiebt; und zum „ersten Mal in der Geschichte der Menschheit verweist der Name Neger nicht mehr nur auf die Lage, in die man die Menschen afrikanischer Herkunft in der Epoche des Frühkapitalismus brachte„. Diesen „Imperialismus der Desorganisation„, ihre „Institutionalisierung als neue Daseinsnorm und ihre Generalisierung für den gesamten Planeten meinen wir, wenn wir sagen, die Welt werde schwarz.“[5] Und sind wir schließlich nicht alle irgendwie „Neger“ oder werden es gerade? So lasst uns gemeinsam den „Aufstieg zum Menschsein“ – eine tolle Sache finden. Nicht dass die folgenträchtige Einsicht, wonach „die systemischen Risiken, denen zu Zeiten des Frühkapitalismus nur die Neger ausgesetzt waren, inzwischen vielleicht nicht die Norm, aber zumindest doch
das Schicksal aller subalternen Menschengruppen“
sind(18), unwichtig oder falsch wäre, ganz im Gegenteil. Es ist nur längst noch nicht das, worum es geht und was der Geschw.-Scholl-Preisträger in seinen 6 Kapiteln zwischen Einleitung und Epilog ausbreitet. Erst im Rückblick wird klar, dass viele in der Einleitung nur bis zur Unentschiedenheit vage angedeuteten Blumigkeiten auf erheblich verwickeltere Verborgenheiten verweisen, verweisen und nochmals „verweisen“ – was beim ersten Lesen ob seiner Geheimnistuerei rasch und irrig als substanzloses Geblubber nerven kann[6]. Dort, wo sich nicht eine etwa in erster Linie schwarze Vernunft kritisch brilliant zu Wort meldet, sondern eine menschliche im afrikanischen Diskurs sich zu restituieren versucht gegen die jahrhundertlangen Einschwärzungen humaner Vernunft durch weiße Entwertungsüberlegungen, beginnt erst die –strapaziöse– Entdeckungsreise.
Zunächst einmal wendet sich Mbembe mit seiner „vorliegenden Arbeit über den Afropolitanismus“(25) in erster Linie gar nicht an irgendein weißes Publikum, sondern entwirft im Rahmen der politisch-philosophischen Diskussion eines scheinbar dekolonisierten Afrikas eine innovative Selbsterklärungs- und -befreiungsperspektive, in der das globale Schwarzwerden der Welt im Sinne einer tendenziellen Universalisierung der „Conditio Nigra“ geradezu DIE Chance des „Negers“ darstellt, seine Expertise durch eben den vielhundertjährigen Erfahrungsvorsprung des Niedergedrückten und doch der Vernichtung sich Verweigernden führend einzubringen, wenn er bloß die Dekolonisation auch mental endlich vollzöge. Nicht von ungefähr beginnt Mbembes Literaturliste (die leider nur nach Reihenfolge des ersten Auftauchens auf die Fußnoten verteilt ist) mit Chakrabartys „Provinzialisierung Europas“ und endet mit Fanons „Schwarze Haut, weiße Masken“.[7] Europäische Denktraditionen werden dabei natürlich nicht etwa negiert, sondern vom afrikanischen Ende her different aufgenommen, insofern dezentriert und entuniversalierend auf ihr brutales Selbst zurückgeworfen, was v.a. die legitimatorische Konstruktion der Rasse und des Negers betrifft. Weiße Lesende dürfen freilich auf der schwarzen Entdeckungsreise mitmachen, wenn sie die ubiquitäre Verwendung insbsd. des N-Worts ohne gnädige Gänsefüßchen oder auch ohne lange entschuldigende Erläuterungen ertragen können – eine hintersinnige Einlassprüfung auf Bescheidenheit und Zuhörfähigkeit oder gar der adäquate Ekeltest in Konfrontation mit den ureigenen Abjekten. Wer diesen Limbo schafft, hat also stillen Teil an der ebenso schmerzhaften wie vorwärtsorientierten
Aufdeckung einer tiefstbegrabenen Bemächtigungsgeschichte,
wie sie ganz gut auch mit Tißberger verstanden werden kann. Wie diese nämlich Psychologie, so hat auch Mbembe außer Philosophie noch eine richtige Wissenschaft gelernt: und zwar die der Geschichte. Das hilft ihm und mehr noch seinen Lesenden, bei allen philosophischen und literarischen, psychologischen und mythisch-poetischen Einsprengseln und Aussackungen des Themas den roten Faden des historischen Geschehens nicht zu verlieren; denn Rasse und Neger –Mbembes Diktion stets übernehmend– sind im Prozess ihrer jeweils aufeinanderbezogen Erfindung, die ein Schlüsselproblem der expandierenden transatlantischen Kolonialökonomie löste, geschichtswissenschaftlich exakt nach Zeit, Raum und Inhalt bestimmbar. Während des ganzen 17.Jahrhunderts vollzog sich im karibisch-nordamerikanischen Raum ein Wandel, der von einer zuvor nicht nach Rasse hierarchisierten bunten Schicht unterschiedlich zu niedrigsten Arbeiten genötigter Armsäcke zur Abspaltung einer herab- und entwerteten Klasse Menschen führte, die die immer drängendere Not löste, „wie man eine große Zahl von Arbeitskräften im Blick auf eine über große Distanzen kommerzialisierte Produktion einsetzen konnte. Die Erfindung des Negers ist die Antwort auf diese Frage. Der Neger ist in der Tat das Räderwerk, das in Gestalt der Plantage die damals effizienteste Form der Akkumulation von Reichtum zu erschaffen erlaubte und so die Integration des Handelskapitalismus, des Einsatzes von Maschinen und der Kontrolle über abhängige Arbeit beschleunigte.“(46) Rasse und Neger bilden so das historische Produkt zur Legitimation einer erkennbar unmenschlichen Ausbeutungspraxis, deren wirtschaftlicher Erfolg ihre Ausstrahlungskraft ins Epizentrische steigert. Entscheidend ist bei dieser Entwicklung durchaus nicht kolonialautoritäre, sklavenhalterische, politisch geleitete oder handelsökonomische Gewalt, sondern „eine immense gesetzgeberische Arbeit… Die Fabrikation von Rassensubjekten auf dem amerikanischen Kontinent beginnt mit deren bürgerlicher Entrechtung“(45) und sukzessive werden Schwarze von Menschen wie alle anderen zur juristisch kodifizierten Unperson als lebenslänglich qua Hautfarbe zur Fronarbeit verdammtes Objekt, von Geburt an eher Tier, Material, Ware, Ding. Es irrt, wer meint „wir hätten endgültig jenes Regime hinter uns gelassen, dessen Urszenen der Handel mit Negersklaven und dann die Plantagen- oder Bergbaukolonie darstellten. In diesem Taufbecken der Moderne setzte man zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte das Prinzip der Rasse und das Subjekt gleichen Namens unter dem Zeichen des Kapitals an die Arbeit, und genau das unterscheidet den Handel mit Negersklaven und dessen Institutionen von autochthonen Formen der Knechtschaft.“(33)
Von Anfang an handelt es sich bei der schwarzen Vernunft um einen weißen Neger-Text entlang solcher Fragen wie Wer ist er?, Woran erkennt man ihn?, Was unterscheidet ihn von uns? Wie und wozu soll er regiert werden?. Mbembe versteht den Text hier als „Ensemble aus Diskursen und auch Praktiken – die alltägliche Arbeit, die darin bestand, Formeln, Texte, Rituale zu erfinden, zu erzählen und zu wiederholen … mit dem Ziel, den Neger als Rassensubjekt und wildes Außenstehendes hervortreten zu lassen, das als solches moralisch abgewertet werden und praktisch instrumentalisiert werden konnte.“(63) Die daraus erwachsenen Legitimationsphilosophien und -muster bilden die schwarze Vernunft als entmenschlichende Verfinsterung der im Buchtitel angerufenen reinen Vernunft etwa des kantianisch rationalen Humanismus[8].
Der „westliche Neger-Text“ verallgemeinert sich so als festes Wissen,
schreibt sich fort, entwickelt im Kontext jeweiliger Bedarfe seiner Zeiten gelegentlich auch größere Sprünge zu höheren Stufen und innovativen Antworten. Im kurzen Abschnitt zur „Aufteilung der Welt“(110-122) hat Mbembe den im 18.Jahrhundert forcierten ideologiebildnerischen Prozess mit sicherem Strich und kundig differenzierend kenntlich gemacht als Marschmusik einer Moderne, die hauptsächlich „das europäische Projekt grenzenloser Expansion“(110) bezeichnet.. „Die Kritik der Moderne wird unabgeschlossen bleiben, solange wir nicht verstanden haben, dass ihre Entstehung mit dem Erscheinen des Rassenprinzips und der langsamen Umwandlung dieses Prinzips in die privilegierte Matrix der Herrschaftstechniken zusammenfällt, und zwar heute ebenso wie damals.“(111) Die Rasse, schreibt er mit Hannah Arendt, „war der Notbehelf, mit dem Europäer auf menschliche Stämme reagierten, die sie nicht nur nicht verstehen konnten, sondern die als Menschen, als ihresgleichen anzuerkennen sie nicht bereit waren.“(113) Rasse und Neger sind historische Produkte als Legitimationsbasis des Beginns kapitalistischer Ausbeutung von Mensch und Natur auf umfassend entgrenztem Level. Ihre exemplarischen Meilensteine, wie etwa aufgeklärte Zivilisationsstufenmodelle oder die Herausbildung des modernen Rassismus i.e.S. oder auch Freuds Psychoanalyse mit ihrer „Konfluenz von Rasse und Gender als Dark Continent“ zwecks konstitutiver Einarbeitung von Kolonialismus, Rassismus und Sexismus in ihre Subjektgenese[0], sind präzise benenn-, datier- und beschreibbar. Die dehumanisierende Gewalt dieser notwendig tiefstbegrabenen Bemächtigungsgeschichte verweist auf eine weitere Leiche im Keller herrschaftlicher Identitätsbildung neben jener der Frau als „Code für Primitivität“, wie das vorhin schon bei Tißberger auftauchte.
Dem im „westlichen Bild des Negers“ verfestigten und als weltmächtiges Herrenwissen gesetzten Identitätsurteil tritt als zweite Stimme von unten die schwarze Identitätserklärung aus klar subalterner Position entgegen, um sich als der, „auf den man keinen Zugriff hat“ zu entziehen, zu behaupten und letztlich wieder vom „Sklaven zum Bürger wie die anderen“(64) zu befreien. Die oft schmerzlichen Abhängigkeiten und Widersprüchlichkeiten dieses fundamentalen Widerspruchs bei der Formierung im „schwarzen Bild des Negers“ bilden die auch i.S. eines Machtgefälles „zweite Seite der schwarzen Vernunft – die Seite, in der das Schreiben den Dämon des ersten Textes und die daran enthaltene Unterdrückungsstruktur zu beschwören versucht“(66). Auch dies ist ein langer und vielschichtig verwickelter historischer Prozess, den Mbembe bei schwieriger Quellenlage mit ungewohnten Untersuchungsgegenständen und –methoden als eine unerhörte Befreiungsversuchsgeschichte entschlüsselt, von der auch Weiße (deutsche insbesondere) Neues lernen könnten, wenn sie das gelernt hätten. In erster Linie geht es aber um die schwarze Emanzipation von gerade dieser Fixierung auf von oben vorgeschriebene Gewaltverhältnisse als Voraussetzung einer befreienden KRITIK der schwarzen Vernunft; und von dort aus in den noch ausstehenden Aufstieg zum Menschsein für alle, der positiven Seite des Schwarzwerdens der Welt.
Aus solcher Position der Stärke werden „Reparation und Reparieren“ zentral,
gut dogonisch eben – und das ist ein weiterer Power Point NACH der befreienden Konfrontation mit dem von Verlust, Schuld, Verbrechen umstellten „kleinen Geheimnis der Kolonie“, nämlich „der Unterjochung des Eingeborenen durch sein Begehren.“(224) Mbembe beschreibt derlei komplizierte Komplexe stets in entsprechend komplexer Sprache und Form, also gnadenlos anspruchsvoll wie eine Spivak[9]: „Das Geständnis, dem der afrikanische Text sich verweigerte, ist die Tatsache, dass das Rätsel des Mangels innerhalb des Begehrens der Hauptgrund für den Verlust des Eigennamens ist. Dieses Rätsel erklärt die ‚gähnende Leere’ (Lacan), von der die afrikanischen Schriften über das Selbst handeln.“(225) „Dass man bei der Konstitution des Subjekts immer noch der Kolonie solch ein gewaltiges psychisches Gewicht beimisst, ist … Folge des Widerstands gegen das Eingeständnis: der Unterwerfung der Neger unter das Begehren, der Tatsache, dass sie sich von diesem ‚dicken Faden der Phantasiemaschine’, der die Ware war, haben einnehmen, verführen und täuschen lassen.“(226) Das macht Reparationen als Wiedergutmachung für „den ihnen geraubten Teil an Menschlichkeit“ noch lange nicht obsolet, sondern im Gegenteil unabdingbar für den größeren „Prozess des erneuten Zusammenfügens der amputierten Teile,… ohne den es keinen Aufstieg zur Menschheit geben kann.“(330). Aber zu diesem Zeitpunkt ist die deutsche Rezeption da weit überwiegend längst ausgestiegen (übrigens incl. jener linken antikapitalistischen, die Mbembe nach nichtmal halber Lektüre schon frenetisch abfeiert), weil sie mit diesem afrikanischen Text nichts anfangen kann.
So verpasst die hochfahrende Hybris des „imperialen Bewusstseins“, auf besondere Weise gerade in Deutschland „von jeher der gewaltige Wille zur Unwissenheit, der sich aber als Wissen versteht“(137), abermals die Chance, „auf die Ideen des Lebens als unvergängliche und unverwesliche Form zurückzukommen.“ Der gemeinsame Aufstieg zur Menschheit ist zugleich der „Schlüssel zum dauerhaften Fortbestand der Menschen wie der Nichtmenschen“. Der dauerhafte Bestand der Welt hängt demnach „ab von unserer Fähigkeit, die scheinbar leblosen Wesen und Dinge wiederzubeleben – den toten Menschen, von der blanken Ökonomie in Staub verwandelt, von jener Ökonomie, die, arm an Welt, mit Körpern und dem Leben Handel treibt.“ Die Restitution der Lebensreserven als menschliche Zentralaufgabe von Welt verbindet Vergangenes und Künftiges in gleichsam endlos gegenwärtiger „Arbeit des Reparierens und der Reparation“, wie Mbembe anschaulich mit den alten Dogon illustriert. „Wenn die Weigerung unterzugehen uns zu geschichtlichen Wesen macht und die Welt berechtigt, Welt zu sein, dann lässt sich unsere Bestimmung zu dauerhaftem Bestand nur verwirklichen, wenn das Verlangen nach Leben zum Eckstein eines neuen Denkens in Politik und Kultur wird.“ Ohne komplette Überwindung „der kannibalischen Struktur unserer Moderne…, die mit dem transatlantischen Sklavenhandel entstand und die sich jahrhundertelang davon ernährte“(328f), geht das natürlich nicht.
Klar nach vorn ist da der Blick gerichtet. „Restitution und Reparation bilden also den Kern der Möglichkeit der Schaffung eines gemeinsamen Bewusstseins der Welt, das heißt der Herstellung universeller Gerechtigkeit.“(330) In Mbembes Zielvorstellung bedeutet „die Proklamation der Differenz nur ein Moment eines umfassenderen Projekts – des Projekts einer kommenden Welt, einer vor uns liegenden Welt, deren Bestimmung universell ist; einer Welt, die befreit ist von der Last der Rasse und des Ressentiments und des Wunschs nach Rache, die jeder Rassismus auslöst.“(332) Wem das zu hoch ist wie dem Fuchs die Trauben, dem sei es gern vertieft in einem meiner kostenpflichtigen Lektürekurse. Wer allerdings vom zu überwindenden Rassismus noch weniger hören will als vom in den Stammlanden des Alten Weißen Mannes bloß mächtig überblendeten Sexismus, mag die Konfrontation mit den selbst genossenen Privilegien der Macht durch allerhand politpathologischen Quark bis hin zum „Antisemitismus“-Ausruf sublimieren. Es hat die deutsche Rezeption halt so ihre Probleme mit aufmuckenden Nichtweißen, zumal wenn sie stichhaltiger, tiefer und umfassender argumentieren bzw. höher als es ihrem Stand entspräche. Im einstigen Land der Dichter und Denker, das heute eins aufgeblasener Denunzianten und Dünnbrettbohrer ist, kommt einer wie Mbembe grade recht.
[4] Das sind exemplarische Jubelzitate vom Waschzettel des Verlags (Rückseite), hier TAGESSPIEGEL bzw. TAZ. Die Seitenzahlangaben folgen im Weiteren dieser Taschenbuchausgabe Berlin 2017 (dt.Erstausgabe 2014, frz. Original 2013);
[5] Die so gern, oft und breit zitierten Zitate Mbembes entstammen im Wesentlichen tatsächlich alle den vorderen Seiten seines Werks, symptomatisch für die generell ungenügende,lückenhafte und oberflächliche Mbembe-Lektüre in Deutschland sogar im Guten. Einen neuerlichen Höhepunkt –im Bösen– dieser unterirdischen Rezeptionskompetenz und des bloß noch schlechten Geschmacks liefern die unsäglichen ebenso dämlichen wie eliminatorischen Antisemitismusdenunziationen der aktuellen Frühlingsdiskussion, die in erster Linie bloß strukturellen Rassismus, intellektuelle Dürftigkeit und charakterliche Lumpigkeit ihrer Blasebälge offenbaren.
[6] Bei genauer Betrachtung allerdings hat die Argumentation ganz im Gegenteil strukturell und inhaltlich schon was von Maria Mies’ um 1980 prägend entwickelter Hausfrauisierung weiblicher Arbeit im kolonialrassistischen Weltmaßstab als unsichtbar gemachtem Untergrund kapitalistischer und imperialistischer Ausbeutung. Mies schon 1986: „Die Hausfrauisierung der Frauen ist auch heute noch der unsichtbare Untergrund des Kapitalismus. Wenn die ganze Arbeit einer Hausfrau so bezahlt werden müsste wie die eines männlichen Facharbeiters, wäre der Kapitalismus schnell am Ende.“ Vgl. auch: Mies, Patriarchat und Kapital, Frauen in der internationalen Arbeitsteilung, München.2015
[7] Dipesh Chakrabarty, Europa provinzialisieren. Postkolonialität und die Kritik der Geschichte in: Sebastian Conrad, Randeria Shalini (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus, Frankfurt/M 2002, S. 283–312 (orig. 1992); Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, Frankfurt /M 1980 (orig. 1952);
[8] Der Originaltitel lautet übrigens Critique de la raison nègre und lässt bereits auf simpler Übersetzungsebene die grundlegende Verständnisproblematik im Deutschen aufscheinen. Mbembe zählt zur dort „fast gänzlich ausgestorbenen Sorte theoretisch und psychologisch informierter Geschichtsdenker, deren essayistische Analysen nicht in der Enge des Archivs, sondern im offenen philosophischen Gespräch entstehen“, wie Peter Merg es jüngst so schön formulierte (JUNGE WELT vom 2.5.20).
[9] Wie bereits Saids, Foucaults, Amins und jetzt Mbembes Schriften (oder Konzepte wie Orientalismus, Diskursanalyse, Eurozentrismus) gerieten auch jene von Gayatri Spivak sofort zu Dokumenten kognitiven Scheiterns im gipsköpfigen Anstrengungsversuch deutscher Oberstübchen, die ihr das dann mit herrenrassistischen Kasinowitzen in der Art „Can Gayatri Spivak speak?“ als Verballhornung ihres globalen Erfolgstitels Can the Subaltern speak? (1988, deutsch erst 20 Jahre später in Wien aufgelegt) heimzahlten. Ähnlich wie Mbembe im zutiefst ausgeloteten Detail stets nach der großen Matrix forschend, die die Welt in ihrem Innersten zusammenhält –oder mit Merg: „so alte und scheinbar überzeitliche Ausbeutungsphänomene wie den Rassismus [und Sexismus] zu fassen ermöglichen, um sie überwinden zu können“– ihren komplexen Studien in nicht vereinfachender Sprache folgend, brachte Spivak mit der Parole „Learning to learn from below” 2000 den nächsten Vollreffer ins Ziel – aber das ist eine andere Geschichte, die über den Link SUBALTERN STUDIES 3.0 weitergelesen werden kann.</em<
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