La barca del mio amore: Halt‘ Dich an Deiner Liebe fest!

24.5.2021 Giorgio LIGURIEN bereisen

Es regt sich wieder was im Land der Liebe, der Musikalität und der frühblühenden Zitronen, denn coronamäßig Gelbe Zone sind wir jetzt schon lange – und für 1.Juni erscheint sogar die Weiße Zone am Horizont realer Möglichkeiten. DAS bedeutet dann bloß noch die obligatorischen AHA-Regeln als Einschränkung; aber auch im jetzt noch gelben Status ist immer mehr geöffnet bis hin zu den Märkten und kleineren Events. Manche hat das hier schon verleitet, halbgar zu verbreiten, auch eins der schönsten und interessantesten Festchen unserer Gegend, die RA BARCA, würde Pfingsten 2021 wieder stattfinden – zu früh gefreut und reingefallen, wer dem Spekulatius deutscher Italienurlauber glaubt.
____Gefühlte 100 Strophen hat „A barca du mei amure“, ein trauriges Liebeslied im ligurischen Dialekt, das jeden Pfingstsonntag in unserer Hauptstadt Baiardo zum „Ra Barca“-Fest dargeboten wird. Der Gesangstext selbst erinnert an Zeiten, in denen das heute keine 350 registrierte Einwohner/innen mehr zählende ‚Bergdorf‘ noch Grafschaftssitz war und beweint die Tragödie der jüngsten von 3 Grafentöchtern, die von ihrem Pisaner Liebsten gegen väterliches Gebot nicht ablassen mochte, sondern -im Gegensatz zu den gehorsamen Schwestern- mit diesem durchbrennen wollte. Der Plan flog auf, am Passo Ghimbegna wurde die unbotmäßige Tochter auf ihrem Weg zum geheimen Treffpunkt vom gräflichen Vater gestellt und geköpft. Nach dem Schreckensruf des begleitenden Hauptmanns (Chissà ora! Wer hätte das wissen können!) heißt der Ort seit runden 800 Jahren ‚Pian Chissora‘.
____Die liebevoll gestaltete Darbietung der „Ra Barca“ wird kombiniert mit einem der seltenen Feste vor-römisch ‚heidnischen‘ Ursprungs, bei dem eine Art Maibaum (kurz zuvor im richtigen Mond geschlagen, sonntags darauf feierlich versteigert) errichtet wird, der allerdings ganz weltlich einen Schiffsmast in altligurisch-seefahrender Tradition symbolisiert und weder mit dem christlichen noch mittelalterlichen Feierdatum zu tun hat (dieser Ritus wurde heuer tatsächlich und in coronakompatibel reduzierter Form begangen). Allerdings hat sich aus der teilnahmsvollen Bergung der geköpften Leiche Angelinas durch die entsetzte Bevölkerung nicht nur ein spontaner Demo-Zug von den Hügeln zurück immer zahlreicher gegen den Grafen manifestiert, sondern im bis heute singend umtanzten und als Mast des Pisaner Geliebtenschiffs uminterpretierten Baumstamm in volkstümlicher Anverwandlung und aktualisierender Rekreation bestehender Bräuche ein historisches Beispiel autonomer Schöpfungskraft von unten überliefert.*
____Klar, dass „Ra Barca“ und das besungene Unglück Baiardo damit zu einer Station des mehrtägigen „L’arte e l’amore“-Treks macht, der freilich nicht nur zur Pfingstzeit buchbar ist. Der 6-Tage-Trek auf den Spuren bedrängter Verliebter von Bordighera über Dolceacqua, Apricale, Baiardo nach Montalto und Badalucco kombiniert lokale (und doch stets so universale) Liebesgeschichte mit überraschenden Kunsterlebnissen und allerhand Musikalität, die bekanntlich fast so universal wie die Liebe sein kann. Zu den diversen Mehrtagestouren-Angeboten geht’s überblickshalber HIER, auch wenn die Beschreibungen von 2016 sind.
——-NEU-NEU-NEU: * Im Internet (und sicher nicht nur dort) kursieren verschiedene, teils erheblich abweichende Versionen (von steindummen Automaten übersetzt multipliziert sich die Fehlerzahl noch). Z.B. waren die 3 Pisaner nicht einfach „Seeleute“ oder „Würdenträger“, sonden Wirtschaftsabgesandte ihrer Republik, die bei Sanremo vor Anker lagen, um mit dem Grafen -eher heimlich- ins (Holz-)Geschäft zu kommen, was diesem gar nicht recht war, da er bei der Nr.1 im westlichen Mittelmeer (Genua) bereits in festen Händen war, von deren Seite er dann gewaltige Probleme zu fürchten hatte. Pisa war -auch als eminent bewaffnete Seehandelsmacht- über lange Zeit eine nicht kleinzukriegende Dauerherausforderung für Genua. Die hier präsentierte Version ist die nach aller geschichtswissenschaftlichen Expertise plausibelste. Der gelernte Historiker geht sogar noch weiter und hält das auf dem „Ra Barca“-Fest zusätzlich aufgeführte Kostümedrama mit Scharfrichter und Todesurteil für einen theatralischen Mummenschanz, der erst in neuerer Zeit angepappt wurde, um dem Brauch die antifeudale staatsfeindliche Spitze gegen „die da oben“ zu nehmen und stattdessen männliche, gräfliche und patriarchale Herrschaft somit vom angeklagten Ruch des Blutig-Bösen ein Stückweit reinzuwaschen: obrigkeitsdienliches Legitimationstheater (Arbeitshypothese).