25 Jahre kollektive Kämpfe um Lebensmittel-Souveränität

18.10.2021 admin La Via Campesina

OFFIZIELLE ERKLÄRUNG VON „LA VIA CAMPESINA“ ÜBER 25 JAHRE KOLLEKTIVER KÄMPFE UM DIE LEBENSMITTELSOUVERÄNITÄT (eig. Übers. aus dem Englischen)
Ernährungssouveränität ist eine Lebensphilosophie.
Sie bietet eine Vision für unsere gemeinsame Zukunft und definiert die Prinzipien, nach denen wir unser tägliches Leben organisieren und mit Mutter Erde koexistieren. Sie ist eine Feier des Lebens und der ganzen Vielfalt um uns herum und umfasst jedes Element unseres Kosmos: den Himmel über unseren Köpfen, das Land unter unseren Füßen, die Luft, die wir atmen, die Wälder, die Berge, Täler, Bauernhöfe, Ozeane, Flüsse und Teiche. Sie erkennt und schützt die gegenseitige Abhängigkeit zwischen acht Millionen Arten, die diese Heimat mit uns teilen.
Diese kollektive Weisheit haben wir von unseren Vorfahren geerbt, die 10000 Jahre lang das Land gepflügt und das Wasser durchwatet haben, eine Zeit, in der wir uns zu einer Agrargesellschaft entwickelt haben. Ernährungssouveränität fördert Gerechtigkeit, Gleichheit, Würde, Brüderlichkeit und Solidarität. Ernährungssouveränität ist auch die Wissenschaft des Lebens – errichtet durch über unzählige Generationen verteilt gelebte Realitäten, wobei jede ihren Nachkommen etwas Neues beibringt, neue Methoden und Techniken erfindet, die sich harmonisch in die Natur einfügen.

Als Halter/innen dieses reichen Erbes liegt es in unserer gemeinsamen Verantwortung, es zu verteidigen und zu bewahren.
Dies als unsere Pflicht anerkennend –besonders in den späten 90er Jahren, als Konflikte, akuter Hunger, globale Erwärmung und extreme Armut zu sichtbar waren, um ignoriert zu werden– brachte La Via Campesina (LVC) das Paradigma der Ernährungssouveränität in den Raum der internationalen Politikgestaltung. LVC erinnerte die Welt daran, dass diese Lebensphilosophie die Prinzipien unseres gemeinsamen Lebens leiten muss.
Die 80er und 90er Jahre waren eine Ära ungezügelter kapitalistischer Expansion – in einem Tempo, das es in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben hat. Städte expandierten und wuchsen auf dem Rücken billiger, unbezahlter und unterbezahlter Arbeitskräfte. Das Land geriet in Vergessenheit. Ländliche Gemeinschaften und ländliche Lebensweisen wurden von einer neuen Ideologie unter den Teppich gekehrt, die jeden zum bloßen Konsumenten und zum Objekt der Profitausbeutung machen wollte. Populäre Kultur und Bewusstsein standen im Bann der glitzernden Werbung, die die Menschen zum „Mehr Kaufen“ anstachelte. Bei alledem blieben jedoch diejenigen, die produzierten –die arbeitende Klasse in den ländlichen Gebieten, Küsten und Städten, zu denen die Bauern und andere kleine Lebensmittelproduzenten gehörten– unsichtbar, während diejenigen im Mittelpunkt der Bühne standen, die sich den konsumistischen Einkaufsbummel leisten konnten. An den Rand gedrängt, erkannten bäuerliche Werktätige und indigene Gemeinschaften weltweit die dringende Notwendigkeit einer organisierten und internationalistischen Antwort auf diese von den Verteidigern der kapitalistischen Weltordnung propagierte globalisierende, marktwirtschaftliche Ideologie. Die Ernährungssouveränität wurde zu einem Ausdruck dieser kollektiven Reaktion.
Auf dem Welternährungsgipfel 1996 prägte LVC in einer Debatte darüber, wie unsere globalen Ernährungssysteme zu organisieren seien, den Begriff „Ernährungssouveränität“ und bestand auf seiner Zentralstellung der kleinen Lebensmittelproduzent/innen, der gesammelten Weisheit von Generationen, der Autonomie und Vielfalt ländlicher und städtischer Gemeinschaften und der Solidarität zwischen den Völkern als wesentliche Komponenten für die Gestaltung von Politiken rund um Ernährung und Landwirtschaft.
Im folgenden Jahrzehnt arbeiteten soziale Bewegungen und zivilgesellschaftliche Aktive zusammen, um den Ansatz weiter zu definieren „als das Recht der Völker auf gesunde und kulturell angemessene, durch ökologisch sinnvolle und nachhaltige Methoden hergestellte Nahrungsmittel sowie das Recht, ihre eigenen Ernährungs- und Landwirtschaftssysteme zu bestimmen, wodurch die Bestrebungen und Bedürfnisse derer, die Lebensmittel produzieren, verteilen und konsumieren, in den Mittelpunkt der Lebensmittelsysteme und -politiken stehen – und nicht die Anforderungen von Märkten und Unternehmen.“

Die Einführung der Ernährungssouveränität als kollektives Recht veränderte das Verständnis der Welt von Armut und Hunger.
Bis dahin dominierte in Regierungs- und Politikkreise vor allem in den frühen Jahren des 21.Jahrhunderts eine enge Vorstellung von „Ernährungssicherheit“. Die in ihrer Absicht edelste Ernährungssicherung behandelte die von Hunger Betroffenen als Objekte des Mitgefühls und nahm in Kauf, sie auf passiv Verbrauchende von anderswo produzierten Lebensmitteln zu reduzieren. Sie erkannte zwar Lebensmittel als grundlegendes Menschenrecht an, verteidigte jedoch nicht die objektiven Bedingungen für deren Herstellung. Wer produziert? Für wen? Wie? Woher? Und warum? All diese Fragen fehlten, und der Fokus lag dezidiert auf der bloßen „Ernährung des Volkes“. Diese offenkundige Betonung bloßer Ernährungssicherheit ignorierte die gefährlichen Folgen damit verbundener industrieller Nahrungsmittelproduktion und Massentierhaltung, die auf dem Schweiß und der Arbeit von Wanderarbeitern beruht.
Die Ernährungssouveränität hingegen stellt eine radikale Überarbeitung dar. Sie erkennt Menschen und lokale Gemeinschaften als Hauptakteure im Kampf gegen Armut und Hunger an. Sie fordert starke lokale Gemeinschaften und verteidigt deren Recht, zu produzieren und zu konsumieren, bevor der Überschuss gehandelt wird. Sie fordert Autonomie und objektive Bedingungen für die Nutzung lokaler Ressourcen, fordert Agrarreformen und kollektives Eigentum an Territorien. Sie verteidigt das Recht der bäuerlichen Gemeinschaften, Saatgut zu verwenden, zu sparen und auszutauschen. Sie steht für das Recht der Menschen auf gesunde, nahrhafte Lebensmittel. Sie fördert agrarökologische Produktionszyklen und respektiert die klimatischen und kulturellen Unterschiede jeder Gemeinschaft. Sozialer Frieden, soziale Gerechtigkeit, Geschlechtergerechtigkeit und solidarische Ökonomien sind wesentliche Voraussetzungen für die Verwirklichung von Ernährungssouveränität. Sie fordert eine internationale Handelsordnung, die auf Kooperation und Mitgefühl im Gegensatz zu Konkurrenz und Zwang basiert. Sie fordert eine Gesellschaft, die Diskriminierung in jeder Form –Kaste, Klasse, Rasse und Geschlecht– ablehnt und ruft die Menschen auf, gegen Patriarchat und Engstirnigkeit zu kämpfen. Ein Baum ist nur so stark wie seine Wurzeln. Die Ernährungssouveränität, definiert von sozialen Bewegungen in den 90er Jahren und später auf dem Nyeleni Forum in Mali 2007, will genau dafür tätig sein.

In diesem Jahr feiern wir 25 Jahre dieses kollektiven Aufbaus.
Die Welt ist bei weitem nicht perfekt. Kapitalismus und marktwirtschaftliche Ideologie dominieren selbst angesichts beispielloser Ungleichheit, steigendem Hunger und extremer Armut weiterhin die politischen Kreise. Schlimmer noch: Es werden auch neue Versuche unternommen, eine digitale Zukunft zu konzipieren –Landwirtschaft ohne Landwirte, Fischerei ohne Fischer, alles im Gewand der Digitalisierung der Landwirtschaft- und neue Märkte für synthetische Lebensmittel zu schaffen.
Trotz all dieser Herausforderungen hat die Bewegung für Ernährungssouveränität, die heute viel umfangreicher ist als LVC und mehrere Akteure umfasst, erhebliche Fortschritte gemacht.
Dank unserer gemeinsamen Kämpfe haben Global Governance-Institutionen wie die FAO II die zentrale Bedeutung von Ernährungssouveränität der Menschen in der internationalen Politikgestaltung erkannt. Die UN-Erklärung über die Rechte von Bauern und anderen Menschen, die in ländlichen Gebieten arbeiten, betont dies noch einmal in Artikel 15.4, wenn es heißt: „Bauern und andere Menschen, die in ländlichen Gebieten arbeiten, haben das Recht, ihre eigenen Ernährungs- und Landwirtschaftssysteme zu bestimmen, von vielen Staaten und Regionen anerkannt als Recht auf Ernährungssouveränität. Dazu gehört das Recht auf Mitwirkung an ernährungs- und agrarpolitischen Entscheidungsprozessen sowie das Recht auf gesunde und angemessene Nahrung, die mit ökologisch sinnvollen und nachhaltigen Methoden produziert wird, welche ihre Kulturen respektieren.“
Einige Nationen haben die Ernährungssouveränität auch verfassungsrechtlich anerkannt. Die durch die COVID-19-Pandemie verursachten Störungen in den industriellen Lebensmittelketten haben die nationalen Regierungen weiter daran erinnert, wie wichtig es ist, eine robuste lokale Wirtschaft zu schaffen.
Die bäuerliche Agrarökologie, die für die Gewährleistung der Ernährungssouveränität in unseren Territorien von grundlegender Bedeutung ist, wird nun von der FAO als zentraler Bestandteil unseres Kampfes gegen die globale Erwärmung anerkannt. Aktuelle und frühere Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen haben die Ernährungssouveränität als eine einfache, aber wirkungsvolle Idee befürwortet, die das globale Ernährungssystem zugunsten kleiner Lebensmittelproduzenten verändern kann. Die anhaltende Kampagne sozialer Bewegungen hat auch zu mehreren juristischen Siegen gegen Unternehmen geführt, die Agro-Toxine, andere Chemikalien und transgenes Saatgut herstellen.

Vor uns jedoch liegt ein Weg mit vielen Hindernissen.
Die Förderer der kapitalistischen Weltordnung erkennen, dass Ernährungssouveränität eine Idee ist, die ihre finanziellen Interessen beeinträchtigt. Sie bevorzugen eine Welt der Monokultur und des homogenen Geschmacks, in der Lebensmittel mit billigen Arbeitskräften in weit entfernten Fabriken massenproduziert werden können, ohne ihre ökologischen, menschlichen und sozialen Auswirkungen zu berücksichtigen. Sie ziehen Großökonomien einer robusten lokalen Wirtschaft vor. Sie wählen einen globalen freien Markt (basierend auf Spekulation und Verdrängungswettbewerb) statt solidarischer Ökonomien, die robustere territoriale Märkte (lokale Bauernmärkte) und eine aktive Beteiligung lokaler Lebensmittelproduzenten erfordern. Sie bevorzugen Landbanken, deren industrielle Vertragslandwirtschaft kleinbäuerliche Produzenten ersetzen würde. Sie injizieren unseren Boden Agrogifte für bessere kurzfristige Erträge und ignorieren die irreversiblen Schäden an der Bodengesundheit. Ihre Trawler werden wieder die Ozeane und Flüsse durchqueren und Fische für einen globalen Markt fangen, während die Küstengemeinden hungern. Sie werden weiterhin versuchen, einheimisches Bauernsaatgut durch Patente und Saatgutverträge zu entführen. Die Handelsabkommen, die sie ausarbeiten, werden erneut darauf abzielen, Zölle zu senken, die unsere lokale Wirtschaft schützen.
Der Exodus arbeitsloser Jugendlicher, die Dorfbauernhöfe für Lohnarbeit in den Städten verlassen, passt perfekt zu ihrem Drang nach regelmäßiger Versorgung mit billigen Arbeitskräften. Ihre unnachgiebige Konzentration auf „Margen“ heißt, dass sie alle Mittel finden werden, um die Preise ab Hof zu drücken, während sie in Einzelhandelssupermärkten zu höheren Preisen gehandelt werden. Am Ende verlieren die Menschen – sowohl Produzenten als auch Konsumenten. Wer Widerstand leistet, wird kriminalisiert. Eine glückliche Koexistenz der globalen Finanzelite mit autoritären Regierungen bedeutet, dass selbst die höchsten Institutionen –national und global– die Menschenrechtsverletzungen überwachen und Schuldige festnehmen sollen, wegschauen. Milliardäre würden auch ihre philanthropischen Stiftungen nutzen, um Agenturen zu finanzieren, die „Forschungsberichte“ und „wissenschaftliche Zeitschriften“ herausgeben, um diese Unternehmer-Vision unserer Lebensmittelsysteme zu rechtfertigen.
Jeder Raum von „Global Governance“, in dem die sozialen Bewegungen und Mitglieder der Zivilgesellschaft hart dafür kämpften, einen Sitzplatz zu erringen, wird Konzernkonglomeraten weichen, die als „Stakeholder“ auf die Bühne treten werden. Kein Versuch wird ununternommen bleiben, diejenigen von uns als unwissenschaftlich, primitiv, unpraktisch und idealistisch zu verspotten, die die Ernährungssouveränität verteidigen.

All dies wird geschehen, wie es in den letzten zwei Jahrzehnten geschah.
Nichts davon ist uns neu. Diejenigen, die von einem grausamen und alles verschlingenden kapitalistischen System an die Peripherie unserer Gesellschaften verschlagen wurden, haben keine andere Wahl, als sich zu wehren. Wir müssen widerstehen und zeigen, dass wir existieren. Es geht nicht nur um unser Überleben, sondern auch um zukünftige Generationen und eine über Generationen weitergegebene Lebensweise. Für die Zukunft der Menschheit verteidigen wir unsere Ernährungssouveränität.
Dies ist nur möglich, wenn wir darauf bestehen, dass jeder lokale, nationale oder globale Politikvorschlag zu Ernährung und Landwirtschaft auf den Prinzipien der Ernährungssouveränität aufbauen muss. Die jungen Bauern und Arbeiter unserer weltweiten Bewegung müssen diesen Kampf führen. Wir müssen uns daran erinnern, dass der einzige Weg, unserer Stimme Gehör zu verschaffen, darin besteht, neue Allianzen innerhalb und über alle Grenzen hinweg zu vereinen und aufzubauen. Ländliche und städtische Sozialbewegungen, Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Akteure, fortschrittliche Regierungen, Akademiker, Wissenschaftler und Technologiebegeisterte müssen zusammenkommen, um diese Vision für unsere Zukunft zu verteidigen. Bäuerinnen und andere unterdrückte Geschlechterminderheiten müssen in der Führung unserer Bewegung auf allen Ebenen den gleichen Platz finden. Wir müssen die Saat der Solidarität in unseren Gemeinschaften säen und alle Formen der Diskriminierung bekämpfen, die ländliche Gesellschaften spalten.
„Food Sovereignty“ bietet ein Manifest für die Zukunft, eine feministische Vision, die Vielfalt umfasst. Es ist eine Idee, die die Menschheit vereint und uns in den Dienst von Mutter Erde stellt, die uns nährt und nährt. Zu seiner Verteidigung stehen wir vereint.
Den Kampf globalisieren, die Hoffnung globalisieren!

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