Wo kein Richtiges im Falschen, da ist’s eben in Zomia
Wer liest, lebt länger – und besser sowieso. Gemeint sind richtige Bücher, die echtes Lesen erfordern, Illustrierte und Bildschirme zählen also nicht, denn auf die [nur textgedruckt erreichbare] Vertiefung kommt es an! Die bringt 2 Lebensjahre extra bei täglich 30 Minuten (alles Durchschnittswerte), ermittelt von der Yale University in einer Langzeit-Studie mit 3600 Teilnehmenden. [So stand’s Feb.2018 im quartalsweisen Liguri-Newsletter, und:] Wer jetzt gleich massig Lesetips braucht, kann seit kurzem im Liguri-Blog auf „wwwebworks.net“ endlich -und pünktlich zum Newsletter Nr.30- die gesammelten Lese-Empfehlungen aus über 7 Jahren Newsletter nachgucken. Oder aktuell ZOMIA: James C.Scott, The Art of Not Being Governed, Yale University 2009; [Aus dem Newsletter Nr.30 hier neu aufgelegt:]
ZOMIA: Wenn’s schon kein Richtiges im Falschen gibt, dann eben außerhalb davon
Carnaíba, wie der brasilianische Xingu die weiße Welt nennt, in der er eine Weile lebte, „ist Lärm und Gestank. Und die Angst, arm zu sein. Die Zeiger der Uhr bestimmen das Leben. Carnaíba hat ein trauriges Herz. Das macht Carnaíba böse“; und bringt damit zum Ausdruck, dass die zentralistischen Herrschaftsformen mit ihrer steuerungs- und ausbeutungsmotivierten Staatlichkeit vom Stadtstaat bis zum Großreich seit vormodernen Zeiten schon die Verderbnis grundlegend in sich hatten. Genauso lange gibt es jene, die sich dem Zugriff der alle Lebensbereiche und Weltecken kolonisierenden Macht lieber entziehen. „Keeping the state at distance“ war immer eine bewusste Entscheidung für Freiheit und Nonsubordination, mit zahllosen daraus folgenden Strategien, Taktiken und kulturellen Dynamiken. Ein legendäres Beispiel für deren barbarisierende Darstellung in den herrschenden Überlieferungen hat sich in die altgriechischen Herakles-Sagen eingeschrieben: Die Ligurer nämlich als aufsässige und gefürchtete Piraten, die dem sagenhaften Herakles auf dessen Rückweg von Gibraltar die dort geklauten goldenen Äpfel wieder abzujagen versuchten. In Zeiten der küstennahen Seefahrt war die von unzähligen versteckten Buchten zerklüftete Riviera ideal für überrraschenden Vorstoß. Mit Müh‘ und Not und fiesen Göttertricks konnte der Superheld pressarbeitsgestützer Staatlichkeit den Angriff der Wilden jedoch abwehren und die wertvolle Ladung heim ins Reich bringen. Seine 12 Abenteuer sind mythologische Lobgesänge kolonialer Expeditionen und Inbesitznahmen, die ‚Säulen des Herakles‘ (eben Gibraltar) markieren den zivilisatorischen Machtanspruch – und die Quelle allen Übels war, dass dieses Urbild des Potentaten zuvor seine Kinder gekillt hatte, was ihn auf Sühnereise trieb. In Ligurien konnte er jedenfalls nicht landen. Auch Rom tat sich lange schwer gegen den montanen keltisch-ligurischen Widerstand, so wie die gleichfalls zerklüfteten Berge und Wälder Liguriens zuletzt nichtmal für die Nazis beherrschbar waren, wo die Resistenza mit viel Rückhalt seitens der Ansässigen gerade in unserem Westzipfel einen überaus zähen und aufopferungsvollen Partisanenkampf führte.
Zomia, heißt es bei James C.Scott, bezeichnet einen der letzten großen „nonstate spaces in the world“, nämlich das sich über grob 2,5 Mio Quadratkilometer erstreckende südostasiatische Bergland, das sich von den kollin-montanen Regionen Südvietnams zusammenhängend bis in den Nordosten Indiens und nach Bangladesh[7] zieht, dabei erhebliche Ausläufer in Thailand und Südchina einschließend. Zusammengesetzt aus ‚weit weg in den Bergen'(ZO) und ‚Volk, Leute'(MI) bedeutet es in den meisten tibeto-burmesischen Sprachen der Region sowas wie ‚Highlander‘ oder fernes Bergvolk. Scotts Studie „The Art of Not Being Governed“ arbeitet anhand unzähliger Einzeluntersuchungen und Fallbeispiele, geschichtswissenschaftlich kompatibler Quellenkritik und dem Mut zu neuen Verknüpfungen und großen Kontexten fundiert heraus, dass das Bild von jahrtausendealten, urig unberührt zurückgebliebenen ‚Stämmen‘ falsch ist und es sich stattdessen um Gruppen handelt, die erst zu Zeiten vormoderner Staatsgründungen den Weg in unzugängliche Berge und Wälder (anderswo Sümpfe und Deltas) antraten, um -aus unterschiedlichsten Gründen, aber immer wissentlich wählend- der Subordination unter ein unerwünschtes Zwangssystem zu entgehen. Nie riss die ‚hill people‘-‚valley state‘-Interaktion ganz ab, Intensitäten und Modi wechselten, der Zug konnte auch wieder talwärts gehen. Landwirtschaftliche Methoden, Ernährungsweise, die Art des Wohnens, Gruppengröße, Vernetzung, kulturelle Praxis – alles musste so umgemodelt werden, dass auch unter den Bedingungen verschärften Einverleibungsdrucks ein staatsfrei selbstbestimmtes Leben langfristig möglich war. Wo modernere Kolonisatoren dann irgendwelche gott-, gesetz- und königslosen Urstämme erblickten, handelte es sich tatsächlich um Leute, die einst in Option für eine egalitäre Sozialordnung auch den Einhegungsaufwand gegen die Staatsgewalt oberhalb aller Ertragsvernunft angelegt hatten, nachdem etwa ihre zuvor freie Agrikultur Objekt staatlicher Begierde geworden war. Scotts „Anarchist History of Upland Southeast Asia“ ist -sauber strukturiert, anschaulich beschrieben, leicht zu lesen- ein großer Wurf und wie andere solche (z.B. Saids „Orientalism“) auch 9 Jahre nach Erscheinen noch nicht auf deutsch erhältlich. Aber dafür gibt’s ja den Lektürekurs zum Fachbuch, hier per Anklick.
„Es wird gesagt“, hat Pierre Clastres schon vor 44 Jahren erkannt und Scott nun am Bsp. Zomia detailliert belegt, „alle Geschichte der Völker mit Geschichte sei eine des Klassenkampfes. Es kann mit mindestens gleichem Wahrheitsanspruch gesagt werden, dass alle Geschichte der Völker ohne Geschichte eine ihres Kampfes gegen den Staat ist.“ Wir wollen den jedenfalls auch nicht auf unserer Campagna und hoffen, die 10 Minuten steiler Fußmarsch und andere Geschicklichkeiten ‚keep the state at distance‘ bis er morsch ist.
[7] Die dortigen Chittagong Hill Tracts sind gerade Ort der aktuellsten ‚hill people‘-‚valley state‘-Konfrontation, die allerdings eine sehr einseitige Angelegenheit genozidaler Säuberungen gegen die Rohingya durch brutalen Militäreinsatz des buddhistischen und von einer Friedensnobelpreisträgerin geführten Staates Myanmar darstellen. Es zeigt sich an solchen Beispielen die Nachvollziehbarkeit von Scotts Pessimismus, wonach durch die überwältigenden Fortschritte staatlicher Distanzaufhebungstechniken bei dadurch und durch neue Profitaussichten leichter vergoldbarem Aufwand ein autonomes Zomia auch in diesem Sinn bald Geschichte geworden sein könnte. Andererseits lässt sich von einem Freiwilligen der Zomia Army, Fußsoldat der „psychologic warfare branch“, aber auch etwas mehr Zuversicht erwarten; Das Carnaíba-Zitat ist entnommen aus: Hans Ritz, Die Sehnsucht nach der Südsee, Göttingen 1983, S.145; Alle anderen Zitate aus: James C.Scott, s.o;
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