RADIKAL RUSTIKAL IM ALLTAG: Entschleunigung als Befreiungsbewegung

3.8.2019 Giorgio Naturprodukte SEIFE Tee Pesto

„Catweazle ist tot“, rauschte es im Mai vor 2 Jahren durch alle Kanäle, dabei war es ja bloß dessen TV-Seriendarsteller und die Weisheiten jenes frühbritischen Hexers und auf Normannenflucht Zeitreisenden sind sowieso unsterblich. Auf solche tieferen Einsichten in die Zusammenhänge von Freiheit und Zeit beruht auch dessen fundamentale Aversion gegen Telefonapparate, die heute als „Handy“ oder Smartphones ihre negativen Charakteristika nur noch multiplizieren. Wir haben auf unserem Posto Tra Monti e Mare die telefonische Erreichbarkeit auf ein für uns taugliches Maß eingestellt, das manche Münder offenständig zurücklässt oder weiter zur Karpfenfrage führt: „Warum seid Ihr denn telefonisch nie zu erreichen?“ Weil wir die permanente Verfügbarkeit zu jeder Sekunde für Egal-wen ablehnen. Es ist nichtmal das Entscheidende, ob solche Fernzugriffe nun von Chefs, Verwandten oder Bekannten kommen. Anrufe stören immer bei der Arbeit, im Gespräch oder während der Konzentration, v.a. greifen sie auch insofern in den Ablauf ein, als sie bestimmen, was Du wann zu tun hast. Was schon Catweazle ganz zurecht als lärmender „Sprechknochen“(im Deutschen mutierte die scharfsinnige Telefon-Verballhornung „telling bone“ zu irgendwas uninspiriert Dämlichen mit „Zauberknochen“) suspekt war, ist in heutiger Moderne längst kein nützliches Kommunikationsgerät mehr, sondern ein Remote Control Device des Systems zur Fernsteuerung abhängiger Aufnehmer/innen. Der allererste Schritt zur Entschleunigung besteht also in der persönlichen Befreiung vom Fremddiktat über das eigene Zeitmanagement, in der Zurückgewinnung individueller (und gesellschaftlicher) Zeitsouveränität. Immer sofort für jede/n verfügbar zu sein, ist was für Herren und Sklaven, Essen-Geher und Bediener. Wir sind natürlich trotzdem stets und regelmäßig zu erreichen: eben per eMail, per SMS (was eigentlich auch telefonisch ist) oder direkt persönlich vor Ort. Und benutzen in bestimmten Fällen sogar das Telefonino, denn dass es bei uns nur mobil funkt (auf schmalstbandiger Breite) lässt sich denken.
Drei Beispiele für individuelle Befreiungspraxis durch Entschleunigung
Das wäre also mal so ein Beispiel für die befreiende Wirkung durch rigorosen Wegschmiss allzu lange allzu leise ertragener Bedrückungen. Ein anderes ist das Ding mit der Seilbahn. Auf unserem Gelände wäre schon eine Seilbahn da, um all die Gepäcke die 10 steilen Fußminuten vom Sträßchen hoch nicht selber stemmen zu müssen. Aber im Reduzieren des Gebrauchs und der Abhängigkeit von Motorkraft im täglichen Leben sehen wir einen weiteren Schritt zur angestrebten Entschleunigung. So kommt es, dass der altersschwach gewordene Seilbahnmotor seit langem außer Funktion ist – und wir ebenso lang keine Notwendigkeit verspüren, uns deswegen verrückt zu machen. Manchmal nutzen wir freilich Motorkraft: die solarstrombetriebene Moulinette z.B. oder den dieselnden Lieferwagen als Werkzeuge für betriebliche Verrichtungen, die eben solches erfordern. Im Rahmen und als Mittel unsres Projekts – nicht als Selbstzweck oder als ferngesteuerte Marionetten, die gar nicht mehr anders können; Je mehr wir aus eigenen Kräften zu machen vermögen, desto weniger hängen wir am Versorgungstropf eines Konsum-, Techno-, Luxus- und Verblödungssystems, das Entfremdung und Abhängigkeit in servile Zustimmung münzt. Desto freier bestimmen wir selbst Tempo, Richtung und Inhalte unseres Weges.
Auch erledigen wir alles sinnvoll Mögliche zu Fuß, etwa bei den zahlreichen Sammelgängen an oder zu speziellen Orten – vom Ernten am Wildhopfenplatz in einem benachbarten Seitental bis hin zum Aufsammeln vollbiologischen Kuhdungs an den Weiden des Monte Ceppo für unsere Kompostwirtschaft. Entschleunigung bedeutet nie irgendein „Seele-baumeln-lassen“ im Lotus-Sitz, auf der Fernseh-Couch oder in der Sonnenliege, sondern immer viel Bewegung, gerade auch draußen zu Fuß (ähnlich wie sich ja echte Körperpflege nicht im hektoliterweisen Verbrauch von Badewasser mit Chemieschmiere manifestiert, sondern in bewusster physischer Betätigung). Das ist gut für Eine/n selbst, schärft die Sinne wie das Denken und erfreut die Umwelt, wenn es sogar überflüssig motorisierte Wege erspart. Alles geht im menschenmöglichen Fortgangsmodus oder es geht halt auch mal etwas nicht mehr. Sowas klärt die Prioritäten im Leben und hilft bestens beim Ausmisten. Mit „FöF“, unserem Programm zur Förderung naturnaher Fußgängerei, ermutigen wir auch Gäste genau dazu: schon zu Fuß anzukommen. Wer aber doch lieber konventionell anreist, ist ebenso willkommen.
Wir heißen Besucher/innen nämlich auch dann vollen Herzens willkommen, wenn sie mit Auto, Motorrad oder einem gastonösen Oldtimer über die Alpen gejuckelt kommen. Dass wir uns bewusst und aus gültigen Gründen für eine entschleunigte Lebens- und Arbeitsweise entschieden haben, bedeutet ja nicht, dass wir das Anderen aufdrücken müssen, den schuldigen Respekt jeweils vorausgesetzt. Auch wenn gerade Deutsche nur schwer verstehen, dass eine eigene Überzeugung nicht gleich mit aller Gewalt in alle Welt hineinmissioniert werden muss. Wir haben z.B. einmal im Jahr die Rallye San Remo mit angeschlossener Oldtimer-Rallye im Oxentina-Tal, ein Event, mit dem sich durchaus leben lässt. Auch Enduros auf den dafür zugelassenen Pisten in den hiesigen Bergen und Wäldern sind kein Problem, soweit der Vorrang der Fußgänger/innen beachtet bleibt. Bei hirntoten Motocrossisti allerdings, die rücksichtslos quer durch die Juchhei donnern und die Wege schlimmer ramponieren als eine Rotte Wildschweine, ist der Ofen aus. Wer zu uns hoch (oder ebenso runter) will, kann das ohnehin nur zu Fuß – und das bleibt auch gut so.
Soziale Relevanzen entschleunigt erfahrener Entschleunigung in echt
Auch ohne direkt Kurse gebucht zu haben, kriegt jeder Gast anschaulich und hoffentlich nachhaltig inspirierend mit, was entschleunigte Lebensweise im Alltag bedeutet und dass Entschleunigung die notwendige Folge naturnahen Wirtschaftens und menschenwürdig selbstbestimmten Arbeitens ist: Im richtigen Leben geht das nämlich nicht schneller als die gegebenen Ressourcen es erlauben. Der Gartenbau braucht seine bestimmten wie verschiedenen Zeiten ebenso wie das Hausvolk (d.i. das Kleinvieh), Sammelgänge im Wald haben ihren eigenen Rhythmus und erfahrungsreiche Mehrtageswanderungen je nach Schwerpunktsetzung wieder einen anderen. Mit Urlaub oder Hobby, Auszeit oder Faulheit, Seelenbaumeln, Slow down oder Pressure up hat entschleunigtes Leben im Grunde nicht ansatzweise zu tun – außer in der abgeleiteten Variante einer externen Beobachtung oder schnuppernden Teilnahme, wie sie mit und ohne Buchungen von Workshops, Seminaren oder Trekkings auf unserem Posto Tra Monti e Mare natürlich Interessierten herzlich gerne offen steht.
So ist mit und aus unserem entschleunigten Alltag wie nebenbei auch ein breitgefächertes Kurse-Angebot und Wander-Programm erwachsen, dessen Details sich auf den Seiten der Homepage finden, in der dortigen Navigation links beispielsweise mehr zu OIKOS (Workshops im konzeptionellen Rahmen einer Organisation des Ganzen Hauses, etwa übers Bierbrauen, Seifensieden, Trockenmauern) oder zu OUTDOOR (geführte Halb-, Ganz- und Mehrtagestouren zu Hexen, Partisanen, Nomaden etc.) oder auch zu ORIENT… Was die Trekkings betrifft, können wir, aus einem überreichen Fundus schöpfend, geradezu maßgeschneiderte Routen in allen Formaten anbieten – vom biwak-gestützten Naked Style über spezielle Slow Foot-Versionen (oder den einfacheren Ein- und Zwei-Tagesausflügen aus Giorgios Portfolio) bis hin zu Silvias Touren im Women Only-Modus.
Entschleunigung ist, wo der Diogenes den Alexander zum Teufel jagt
Entschleunigung gehört ja wie etwa Slow Food, Permakultur, Sanfter Tourismus zu jenen wohlbekannten Parolen, die leider allzuoft überlagert vom marketingorientierten Süßklang und um ihren ursprünglichen Zentralgehalt ziemlich entkernt im BWL-Phrasendresch moderner Informationsgesellschaften gängige Münze geworden sind. Die beiden mittleren Begriffe sind sogar markengeschützt, den Permakultur-Designer z.B. kann man auf teuren Lehrgängen in lizenzierten Akademien erwerben. Unser Ansatz ignoriert diesen marktkonform einstudierten Wasserkopf und hat stattdessen in langjähriger eigener Praxis Arbeitsweisen und Konzepte herausgebildet, die inhaltlich mit den originalen Ideen solcher Aufbrüche und Alternativen erstaunlich häufig korrespondieren. Hinter deren modisch gewordenem Hohlsprech erschließen sich im Wurzel-Bereich (dem Root-Verzeichnis) so -und nicht über schlaue Verkaufsgespräche- die substanziellen Parallelen zu unserem real gelebten Projekt. Wir können so deren wesentliche Elemente praktisch als vorweisbare Realität bei uns und für uns in Anspruch nehmen und sind z.B. auch als Permakulturist/innen in echt wahrscheinlich tatsächlicher als viele nur virtuell oder theoretisch korrekt Zertifizierte. Was soll’s, Worte interessieren uns nicht sonderlich – wir tun.
Was dabei rauskommt, ist vieles, ganz sicher mal Entschleunigung, und zwar in ihrer kernigen renitenten Form. Als schicker Style, Konversationsvehikel oder vermarktbare Chimäre sind solche Slogans längst fester „Bestandteil des Zeitgeists geworden. Sie dethematisieren jedoch Machtunterschiede zwischen ZeitgeberInnen und ZeitnehmerInnen sowie gesellschaftlich unterschiedlich verteilte Potenziale der Gestaltungsmacht von Zeit,“ meint Dagmar Vinz, Verfasserin des Eintrags „Entschleunigung“ im VSA-Lexikon „ABC der Alternativen“, das 161 relevante Schlagworte von der „Ästhetik des Widerstands“ bis zur „Zivilgesellschaft“ auf je 2 Seiten in kompetenter Kürze durchdefiniert. Anhand ihrer Schlussfolgerung im hier zitierten TAZ-Artikel vom 7.1.08 wird deutlich, dass wir mit unserer jene dethematisierende Entkernung wieder aufhebenden Entschleunigungspraxis den definitorischen Anspruch fett erfüllen: „Sozial-ökologische Zeitpolitik erfordert es daher zum einen, die Gestaltung kollektiver Rhythmen und sozial verträglicher Zeiten als öffentliches Gut und Feld politischer Gestaltung anzuerkennen. Zum anderen besteht die Herausforderung der Entschleunigung darin, die sozial-metabolische Basis von Ökonomie und Gesellschaft langfristig wieder auf ein Solarenergiesystem zu orientieren.“ So ähnlich hat das der Diogenes in der Tonne schon dem großen Alexander begreiflich machen wollen, der stand dem aber nur stutzig in der Sonne und hat auch sonst in seinem kurzen Leben nicht viel kapiert.


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