STRIGÒRA di Triora: Die Hexen sind zurück!

17.8.2022 Giorgio Newsletter & Technix

Zur Feier dieses 2x coronabedingt ausgefallenen Anlasses hier eine originale Nachlese aus dem Newsletter Nr.45 zu älteren, neueren und unvergänglichen historischen Hintergründen des legendären Festes zu Ehren der Hexen von Triora – und den vierteljährlichen Newsletter bestellz gratis & supersimpel über die Homepage per Klick auf CONTACT und einer eMail mit „Her mit dem Newsletter“ im Betreff. Der Artikel in der Novemberausgabe 2021 original & ungekürzt:
___________“Heier‘ die Hex, dann bassiert’dä a nex!“ So lautete die…
frappierend weisheitshaltige Widmung eines lieben Gastes, sinngemäß und leicht poetisiert, in einem auf unserem Posto hinterlassenen Buchgeschenk. „Bàgiue“ (6/2016, umfass. durchgesehene u. erweitere Aufl., orig.1994) thematisiert „le streghe di Triora, fantasia e realtà“, also die Hexen Trioras und die im Oktober 1587 im oberen Argentinatal losgetretenen Verfolgungen und Prozesse, die eins der größten Vorkommnisse dieser Art in Italien bildeten – sowie v.a. hervorragend dokumentiert sind. Die 18 wichtigsten Quellentexte finden sich auf 47 Seiten komplett versammelt und auch sonst wird der Forschungsstand zur Ereignisgeschichte, aber ebenso zum erweiterten Kontext, bestens kurzreferiert. In den einleitenden Kapiteln kommen ausführlich 2 hochbetagte Trioreserinnen zu Wort, deren Alltagserzählungen aus ganz entgegengesetzten Perspektiven breite Fenster aufstoßen zum Begreifen einer ländlichen Welt mit ihrer Fülle verschiedenst wirkender Pflanzen, markanter Orte und der kardinalen Fußwege von hier nach dort. Manche der genannten Orte -seltsam vertraut wie die reichlich fallenden Pflanzennamen- stehen bis heute im Ruf, Treffpunkte furios ungesitteter Frauen mit mächtig Kräuter- und Körperwissen zu sein, die in und mit der Natur die wildesten Orgien feiern (werden an dieser Stelle aber nicht verraten).
Spannend und aufschlussreich auch die pointiert und kompetent dargelegte Wiederentdeckungsgeschichte trioresischen Hexenwesens, die in den späten 80er Jahren mittels erst künstlerischer, dann wissenschaftlicher Offensiven einen bemerkenswerten Durchbruch kollektiver und v.a. positiver Rückaneignung lokaler Vergangenheit in der Gemeinde selbst erzielt hat: Die erste, vor 35 Jahren scheinbar aus dem Nichts kommende Initiative des renommierten Theaterregisseurs Tosco, sein Stück zum Thema auch im entlegenen Triora hinter den 7 Bergen[3] aufzuführen, wo schon länger und eher fruchtlos Möglichkeiten eines Einschlusses in den badetouristischen Einnahmesegen begrübelt wurden, stieß zunächst auf überraschte Zustimmung. Man traf Vorbereitungen und fixierte den 11.Aug.’86 als Termin für das Open-Air-Spektakulum im Ort. Die überwiegende Stimmung in der Bevölkerung war aber nicht so günstig: „Die Jungen kicherten, die Eltern sorgten sich um ihre Kinder im erblühenden Alter und die Alten missbilligten“ das Vorhaben, schreibt Sandro Otto auf S.68 (eig. Übers.). Lokale und zunehmend auch überregionale Blätter berichteten und skandalisierten ihrerseits Aufführungen von Tosco andernorts, etwa in Dolceacqua. Parolen wie „Keine Blasphemien und Pornographien vor unserer Kirche!“ gewannen die Oberhand und führten kurz vor Aufführung zur Absage durch die Kommune – und zum Protest der Schauspieltruppe samt Regisseur mit der Ansage, dennoch in voller Kostümierung auf dem Platz zu erscheinen, worauf ein offizielles Verbot folgte. Das Ganze erregte erhebliches, sogar landesweites Aufsehen, doch als der Vikar des Erzbischofs mit einer Rechtfertigung der Verbotsverfügung in die öffentliche Diskussion einstieg, wonach die Bevölkerung des Hinterlands nicht über die rechtlichen, historischen, moralischen und religiösen Maßstäbe zur Gewähr einer objektiven Beurteilung des abgesetzten Stücks verfüge (S.70), änderte sich die lokale Stimmung recht schnell und frau fand den Kompromiss, ersatzweise zum 400.Jahrestag des Triora-Prozesses 1988 einen wissenschaftlichen Konvent (durchaus hochkarätig besetzt) auszurichten, dem -jedes Mal bei aktiver Einbindung und reger Teilnahme der Bevölkerung- ’94 und ’97 zwei weitere folgten. So wagten sich auch Nachfahrinnen der 33-35 mit schärfster Folter, Verschleppung und Einkerkerung in Genua Drangsalierten und 1589 in Rom schließlich Abgeurteilten[4] aus der Deckung jahrhundertelanger Beschwiegenheit und bereicherten die selbstbefreierische Rückbesinnung der anhebenden lokalkulturellen Renaissance um ihre ganz spezifischen Perspektiven. Nun gab es also doch Spektakel und Ausstellungen, internationale Presse und Touris, 2001 endlich die Uraufführung eines autochthonen Open-Air-Stücks, mit dem praktisch ganz Triora seinen gepeinigten Spezialfrauen ein ehrendes Denkmal setzte, jede einzelne namentlich anrufend und um Vergebung für „la stupida crudeltà degli uomini“(S.168) bittend. Vor 20 Jahren war so die STRIGÒRA geboren, „la festa delle streghe“, seither jeden Sonntag nach Ferragosto mit vielfältig wechselnden und sukzessive umfangreicheren Programmen höllisch abgehend[5].
„Tremate, tremate! Le streghe son‘ tornate!“ – so lautete in den 70ern ein Schlachtruf der modernen Hexen Italiens, die sich als militante und rabiate Frauenbewegung im feministischen Kampf gegen das Patriarchat klar links verorteten und ähnlich Furore machten wie der legendäre Fluch-Anschlag des WITCH-Movements zu Samhain vor 53 Jahren auf die NewYorker Börse[6] oder die Walpurgisnächte der 80er an bundesdeutschen Hauptbahnhöfen (z.B. im weltbekannten Aschaffenburg) mit so unvergesslichen Sprechchören zur klappernden Schere: „Schnipp, schnapp, Pimmel ab!“ Den kämpferischen Soundtrack lieferten in D-land zornige junge Frauen aus der Politrock-Szene zwischen Ton Steine Scherben und Checkpoint Charlie, die auf alten Bauernhöfen ihre eigenen Musiken machten (z.B. Rotznasen-Theater: „Kommt, lasst uns wieder Hexen werden, frech und unbequem / unsre Wurzeln wiederfinden, stark und ungezähmt!“). So ‚weiblich, wild, wütend, fröhlich und unsterblich‘ eben, wie es im WITCH-Manifeste steht. 1980, fast 15 Jahre nach Erscheinen des italienischen Originals, war zudem Carlo Ginzburgs bahnbrechende historische „Benandanti“-Studie in D-land angekommen[7], Ausdruck auch neuer, nicht zuletzt feministischer Fragestellungen in den Geschichtswissenschaften. In Italien, wo bis heute die trödelselige Befana (statt des öden Dödels Nikolaus) die respektiven Regaletti bringt und sowieso immer alles Bella ist, war der künsteliche Film- und Fernseh-Input der 90er gar nicht nötig, um die ‚Hexen: schlau, sexy, cool‘ aus der Versenkung zu reanimieren; sie waren ja nie tot oder fort, nur unscheinbarer in entlegensten Ecken und Bergtälern, die gerade hier zudem von jahrzehntelanger Landflucht betroffen waren. So ungefähr das alles und noch viel mehr bildete die gegenkulturell fruchtbare Lage, die vor 35 Jahren auch Toscos Schauspieltruppe vorfand und mitgestaltete mit ihrem Versuch, ein teuflisch freches Stück in Triora zur Aufführung zu bringen, was 15 Jahre später die STRIGÒRA gebar. Und wütende Frauenproteste, nicht nur (aber maßgeblich) von Feministinnen und Hexen (allen voran die gnadenlos antiritterlichen Femen) haben seit 2011 in wenigen Jahren den über allen Bungabunga-Killefitt hinaus stets beachtlich gebliebenen weiblichen Stimmenanteil für den unsäglichen Proto-Trump und selbsternannten Cavaliere Berlusconi schließlich doch so erodiert, dass er keine bedeutende Wahl mehr gewann. Und wenn Stefania Pedretti da nicht ihre magischen Hände mit gerührt hat, will ich einen Hexenbesen fressen. Die haben wir im Sommer auf dem „Prati Dispari“-Fest kennengelernt – und das ist mal einen Literaturtip wert. ==> https://www.youtube.com/watch?v=RvgLlJzctv8 /
ANMERKUNGEN:
[3] Von unserem Posto auf gleicher Höhe (gut 800m) aus liegt Triora freilich nur hinter eineinhalb Bergen, nämlich 800 Höhenmeter aufwärts zum M.Ceppo, dort am Pass unten rüber und runter ins Argentinatal nach Molini und von dort wiederum aufwärts den Südhang des Saccarello hoch bis Triora. Der Weg ist für fitte Geübte auch solo an einem Tag zu schaffen, aber wer sich nicht so stressen und dabei noch Fundiertes zum Hexenthema und vielem anderen auf dem Wege Liegenden erfahren will, nimmt besser unseren Kulturtrek zu „Hexen, Hirten und Maronen“. Der gönnt sich 1 oder 2 Übernachungen (je nach dem, ob die STRIGÒRA mitgefeiert wird) und einen anderen Rückweg – siehe dazu auch das Sonderding!
[4] Nicht alle dieser aus Ende 1587 bereits über 100 als beschuldigt Inhaftierten zur weiteren Verfolgung Ausgesiebten starben (an Folterfolgen oder durch Hinrichtung), manche kamen nach anderthalbjährigem Horror mit in Triora öffentlich zu wiederholendem Abschwur davon, 8 sogar mit Entlassungen, jeweils falls sie nach einer letzten Verifikationsfolter oder Ermahnung weiterhin leugneten bzw. nichts Neues erbrachten. Die gute Quellenlage hat nicht nur die Abläufe in plastischer Tiefe, sondern auch die verwickelte Dynamik der Interaktionen verschiedenster Akteure vor Ort selbst, in der genuesischen Republik und im Heiligen Rom als Wechselspiel widersprüchlicher Interessen mit oft unerwartbaren Wendungen hervorragend erhellen können – kann hier aber im Detail nicht ansatzweise dargelegt werden. Auch dafür bietet der o.g. Kulturtrek die Gelegenheit.
[5] Zuletzt wurde die STRIGÒRA allerdings coronabedingt 2x abgesagt. Notabene außerdem: Ist das Wicca-Zeichen heute auch omnipräsent im Ort, so sind die kommerziellen Aspekte doch ebenso unübersehbar und bisweilen scheint’s, als drohe ein differenziertes und tieferes Verständnis des „Hexenwesens“ im ja nicht völlig illegitimen Kommerzialisierungswunsch der Ansässigen in käuflichem Hexen-Kitsch aller nur denkbaren Formate sogar unterzugehen. Lieber locker bleiben! und lächeln: Der auch wegen ihrer schönen Altstadt mit den charakteristischen Gässchen, den vielen Schieferrelief-Portalen und immer wieder spektakulär sich auftuenden Aus- und Ansichten unbedingten Sehenswürdigkeit Trioras tut das nämlich keinen Abbruch.
[6] WITCH („Women’s International Terrorist Conspiracy from Hell“) war eine sozialistisch-feministische Gruppe, deren Fluch durch eine nächtliche Klebstoffattacke auf die Türverschlüsse der Börse ausgelöst wurde, so dass die morgens darauf anschlappenden Börsianer nicht an ihren „Arbeits“platz kamen und der Dow Jones an diesem Tag um 13 Punkte nachgab. Dieses und mehr zum Thema „Die Hexe – eine feministische Ikone, die bis heute verfolgt wird“ gibt es in Julia Korbiks unten verlinktem Blog. Die ‚einfach markierten‘ Zitate des Absatzes sind dem eben genannten Aufsatz entnommen. Wenngleich dessen historische Reichweite nicht sehr weit zurück trägt (aus 50 zurückliegenden Jahren werden schnell mal 60 und das Mittelalter wird auch mal wieder um ein, zwei Jahrhunderte in die der Frühen Neuzeit zuzurechnende Hochzeit der Hexenjagd verlängert), so dass auch die Reklamation „Innerhalb weniger Jahre ist die Hexe zum feministischen Symbol unserer Zeit geworden“ für die 90er, „in denen die Hexe endgültig zum kulturellen Phänomen“ geworden sein soll, allzu journalistisch geschichtsvergessen schiefgewickelt ist – zur Gegenwart der 10er und 20er Jahre allerdings und allemal eine instruktive Kurzübersicht. ==> https://www.thisisjanewayne.com/news/2019/11/07/season-of-the-witch-witch-please/
[7] Carlo Ginzburg, Die Benandanti (Feldkulte und Hexenwesen im 16. und 17.Jahrhundert). Den Klassiker von 1965/66 (dt.1980) gibt es auch als erschwingliches EVA-Taschenbuch (Europäische Verlagsanstalt). Die ausgewerteten Inquisitionsakten stammen zwar aus dem friulischen Nordosten Italiens, aber die Inhalte, Analysen, Interpretationen und Resultate sind ohne Weiteres auf andere Regionen Eurasiens mit höchstem Einsichtsgewinn anwendbar. Vorbildlich projektionsfrei, streng geschichtswissenschaftlich, dennoch lesbar und spannend – das lässt sich gerade zum „Hexenwesen“ wohl von kaum einer zweiten Publikation behaupten.

2 Antworten zu “STRIGÒRA di Triora: Die Hexen sind zurück!”


Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Präsentiert von http://wordpress.org/ and http://www.hqpremiumthemes.com/