DER WALD IST LIEBLICH, DUNKEL, TIEF / Zur Stadt…

30.4.2025 admin La Via CampesinaNewsletter & Technix

…die glatte Antithese: Der überzeugte Großstädter und begeisterte Wald- und Spessartwanderer K.Tucholsky hat auch das in einer seiner stets wie von Zauberhand gelingenden Geschichten mal aufs Trefflichste in Worte gefasst. „Mir erstarrte das Blut in den Adern“, beginnt die Geschichte vom Herrn Ahlmann 1929, als der Erzähler von seinem Stockholmer Reiseführer Borgstedt gerade einem Holzhändler mit der Angabe vorgestellt wird, er sei nach Schweden gekommen, um sich über die Holzpreise zu unterrichten. „Knapp bin ich imstande“, fährt er fort, „eine Birke von einem Johannisbeerstrauch zu unterscheiden, und ob man Holz nach Pfund oder nach Litern verkauft, weiß ich auch nicht…“ Das ist halt wahre Größe, wenn der Schuster bei sei’m Leisten bleibt und die Kuh nicht tut als könnte sie Piano spielen. Tucholsky war einer der bis heute selteneren stadtbürgerlichen Intellektuellen, die bescheiden genug blieben, sich nicht einzubilden oder vorzugeben, zu allem und jedem besser Bescheid zu wissen als etwa die damit ausgebildet Befassten oder jeweils Betreffenden selbst. Diesen gehörigen Respekt bekam er auch zurück, denn wie die Wälder achteten ihn ebenso die Arbeitenden der entsprechenden Bewegung, was sie gegenüber „ihren“ selbsternannt feurig fürsprechenden halbstudierten Naseweisen oft aus mittlerer ‚upper class‘ regelmäßig nicht so taten. Naja, Tucholsky hatte immerhin einen Beruf gelernt und war von der Weltkriegsfront als militanter Pazifist zurückgekehrt. Was Stadt und Wald betrifft, so machte im ausgehenden Mittelalter Stadtluft vielleicht manchmal frei, in ‚modern times‘ jedoch Monster gebärend eher krank. Waldluft hingegen machte irgendwie zu allen Zeiten und heute ganz besonders frei: Von Amazonien bis Zomia, vom Sherwood Forest bis zum Spessart, von den Dschungeln Indiens, Vietnams oder Guyanas bis zu unseren westligurischen Kastanienmischwäldern Refugium von und für die vielgestaltigsten Kämpfenden einer universalen Resistenza gegen den ausbeuterischen, Mensch und Umwelt zerstörenden Zugriff wirtschaftskrimineller Banden von Sklavenhaltern, Feudalherrn, Kolonialstaaten, Steuereintreibern, Markteroberern, Invasoren, Nazis, Agrarindustriellen, Großkonzernen und anderen kapitalen Profitgeiern.
_______Zwischen Stadt und Wald natürlich liegt breit das Land mit seinen Feldern, die die Welt ernähren, wobei die dazu kultivierte Zone in spezifischer Weise freilich bereits mitten im Wald beginnt, ebenso wie auf Seiten der Stadt das Land noch weit in deren Peripherie und weiter hineinreicht. In diesem Bereich hat sich vor Kurzem allerhand getan: der Anteil der noch tatsächlich i.e.S. ländlich lebenden Menschen an der Weltbevölkerung nämlich hat inzwischen [4 Jahre später, heute haben wir bereits Mai 2025] die statistische 50%-Marke unterschritten. Die markante Zahl spiegelt den Effekt anhaltender Landflucht in etwas, das regelmäßig nicht mehr wirklich Stadt ist, sondern oft eher Flüchtlingslager in Selbstverwaltung und immer relativ arme randständige Wartezone (im globalen Norden teils auch deutlich näher zur Innenstadt) in kollektiv trotziger Hoffnung auf irgendein Einkommen, das die elende Eigenlage bessern möge. Diese „urban poor“ bilden heute die einzige schnellwachsende Gruppe der Weltbevölkerung. Sie sind Landflüchtige in erster, zweiter oder schon dritter Generation, haben weiterhin Verbindungen zu ihren Ursprungsorten, besuchen sie häufig und importieren von dort Lebensmittel auch zur informellen Vermarktung im kleinen Maßstab, halten ebenso in ihren suburbanen Vierteln Hühner, ziehen Gemüse, pflanzen Sträucher und Bäume zur Lebensmittelversorgung – können also als neue Form der „global peasantry“ durchaus zugerechnet werden. Es ist hier weltweit eine neue Generation von „petty peasants“ entstanden, die sich -in je unterschiedlicher Weise- auf dem Land und in der Stadt gleichzeitig zuhause fühlen, übrigens und selbstverständlich auch bei uns im Oxentinatal. Zusammen mit der klassischen „rural peasantry“ umfasst diese „urban peasantry“ bereits die große Mehrheit der Menschheit, nämlich 70-80 % der Menschheit – eine ganze Menge Holz!
_______In und aus diesem RURAL-URBAN INTERFACE passieren die interessantesten Entwicklungen und Wechselwirkungen mit dem Potenzial, das agrarindustrielle „food system“ zu transformieren und darüber womöglich die gesamte so destruktiv herrschende Weltunordnung zum Nutzen der Menschen zu korrigieren. Die in die urbanen Zentren ausstrahlende Popularisierung selbstversorgerischer Aktivitäten (etwa im „urban gardening“) und Sensibilisierung für den Erwerb hochwertiger Naturprodukte von „petty peasants“ sind wichtige Punkte, an denen auch und seit langer Zeit vornedran LA VIA CAMPESINA arbeitet, die erste wirklich weltweite Kleinbauernbewegung und Erfinderin des Konzepts der „food sovereignty“ [siehe speziell zur Ernährungssouveränität die Blog-Einträge Internationaler Aktionstag für Ernährungssouveränität und gegen transnationale Konzerne am 16.10.! und 25 Jahre kollektive Kämpfe um Lebensmittel-Souveränität, im eigenen Reiter „LVC-Actiondays“ oben finden sich übersetzte Aktionsaufrufe und Kampagnentexte und HIER geht’s zur englischsprachigen Website]. Dass in diesem Abschnitt so viele englische Begriffe vorkommen, reflektiert den Umstand, dass die internationalen Publikationen dort hauptsächlich auf Englisch (sowie Französisch und Spanisch) erscheinen. Insofern nicht aus erster Hand ‚up to date‘ zum Stand dieser dynamischen rural-urbanen Prozesse und dem aktuellen Forschungsstand dazu muss bleiben, wer die Weltgeschehnisse nur auf deutsch wahrnehmen will, was im Land der höchsten Denkerdichte gerne in freiwilliger Horizontbeschränkung angenommen wird. Wer aber trotzdem Einstieg sucht ins ‚rural-urban interface‘, kann unsere gelegentlichen Übersetzungen diverser LVC-Texte im LiguriBlog auf wwwebworks.net für den Anfang nutzen. Oder auf unserem agrarökologisch entschleunigten Posto TMM ein Praxisbeispiel subsistenzorierten Lebensmittelhandwerks anschaulich und hoffentlich nachhaltig inspirierend gleich selbst miterleben.
_______ERGÄNZER ZUM SCHLUSS mit dreifach donnerndem „Heraus zum rölevuzionären 1.Mai!“: Der Artikel erschien Mai 2021 im Newsletter 43 als erster von 3 thematisch mit Gedichtzeilen Bob Frosts poetisch zu einem Konzeptalbum verbundenen Gesamtkunstwerk. Wer nach „DER WALD IST LIEBLICH, DUNKEL, TIEF“ nun auch noch „DOCH MUSS ICH TUN, WAS ICH VERSPRACH“ sowie „UND MEILEN GEHN, BEVOR ICH SCHLAF'“ und den ganzen dahinter stehenden Rest entschlüsseln oder sich erschließen will, muss mindestens erstmal als Abonnent/in dieser kostenlosen Vierteljahrespublikation eingeschrieben sein ==> ganz einfach über die Homepage LIGURI.INFO und dort links in der Navigation per Mail mit Betreff „Her mit dem Newsletter!“ zu bestellen.


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